15. Mai 2019

„Die Rolle der Apotheken muss gestärkt werden.“

Wir sprachen mit dem ehemaligen Finanzminister und Hauptverbandschef Dr. Hans-Jörg Schelling über die Gesundheitsreform, die Rolle der Apotheken und warum es ein Weißbuch für die Gesundheitsversorgung braucht.

Herr Dr. Schelling, wie beurteilen Sie die aktuelle Gesundheitsreform der Bundesregierung?

Es wäre überzeichnet, hier von einer Reform im Gesundheitsbereich zu sprechen. Es ist eine Reform der Institutionen, nämlich der Versicherungen. Es ist keine Reform im Sinne des Gesundheitswesens, denn dort geht es ja um Fragen, wie löst man das Problem der intra- und extramuralen Schnittstellen, wie löst man die Finanzströme, wie soll die Patientenversorgung der Zukunft aussehen, mit welchen Einrichtungen wird das bereitgestellt. Das ist ein anderes Thema wie die Zusammenlegung der Krankenkassen.

Mit der Strukturreform sollen Einsparungen in Höhe von 1 Mrd. Euro erzielt werden. Ist das Ihrer Meinung nach mit dieser Reform möglich?

Es ist ein sehr ambitioniertes Ziel. Ich weiß, dass das extrem schwierig werden wird, weil ich mir als Präsident des Hauptverbandes diese Dinge schon oft angesehen habe und damals durchgerechnet habe. Daher ist es sehr ambitioniert.

Einer der meistkritisierten Punkte bei der Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger ist das Rotationsprinzip im Vorstand. Sie waren auch Chef des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger. Was halten Sie von diesem Rotationsprinzip?

Ich bin kein Freund dieser Rotationsprinzipe. Man sieht ja, auf europäischer Ebene, wie schwierig das ist, wenn ein Land nur ein halbes Jahr den Vorsitz hat. Ich glaube, dass man hier mit großer Kontinuität arbeiten muss, weil das Thema extrem komplex ist. Wenn sich jemand neu einarbeiten muss, ist das halbe Jahr schneller vorbei als man glaubt. Daher glaube ist, dass man das Rotationsprinzip am Ende des Tages als kein geeignetes Instrument betrachten wird.

Was wären Ihrer Meinung nach dringend notwendige Reformschritte?

Wenn diese Zusammenlegung der Kassen erfolgt ist, stellt sich die Frage: wie harmonisiert man das Leistungsrecht, wie harmonisiert man die Honorarfrage. Denn wenn es nur noch eine Kasse gibt, dann muss ja auch diese eine Kasse österreichweit die Verträge machen. Ich glaube, wenn man sich wirklich damit befassen will, wie man das Gesundheitssystem der Zukunft gestaltet, dann wird man definitiv überlegen müssen, wie man diese Finanzströme, die ja zum Teil völlig kurios sind, in den Griff bekommt, wie man die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern sauber löst, wie man die Frage intra- und extramurale Versorgung besser steuert und löst. Das sind die großen Fragen. Jetzt geht es nur darum eine Struktur aufzubauen, die sicherstellt, dass die Patienten keine Nachteile durch diese Strukturreform haben.

Was hätte man bei der Gesundheitsreform besser machen können?

Es ist leichter eine Struktur zu ändern, als eine Strategie zu entwickeln. Aber es muss am Ende des Tages der Grundsatz gelten, dass die Struktur der Strategie folgt und nicht umgekehrt. Daher wäre es aus meiner Sicht gut gewesen, wenn man sich umfassend mit dem Thema Gesundheitsversorgung beschäftigt hätte und sich dann überlegt hätte, mit welcher Struktur kann ich das umfassend leisten.

Noch eine persönliche Frage: Tut es Ihnen leid, dass der Hauptverband durch einen Dachverband ersetzt wird?

Wenn ich hier mitreden hätte können oder müssen, hätte ich eher dazu geneigt, den Verband massiv zu stärken und nicht ihn massiv zu reduzieren. Weil viele wichtige Funktionen, wie z.B. der gesamte Einkauf von Medikamenten über den Hauptverband laufen und der Hauptverband per Gesetz auch was die Vertragsproblematik anbelangt eine sehr wichtige Rolle hat.

Derzeit wird die E-Medikation in den österreichischen Apotheken ausgerollt. Sie haben das Projekt damals als Vorstandsvorsitzender des Hauptverbandes ins Rollen gebracht. Wie schwierig war es, dieses Projekt auf die Beine zu stellen?

Es war wahnsinnig schwierig, denn wir haben im österreichischen Gesundheitssystem viele Standesvertretungen die beharrend wirken. Es gab damals Konflikte zwischen Ärztekammer und Apothekerkammer. Die Apothekerkammer war ja mit dem Medikamentensicherheitsgurt ein Vorreiter für das Modell E-Medikation. Es ging zum Beispiel um die Frage, ob die Apotheker die Diagnosen sehen dürfen oder nicht. Was für mich eigentlich eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre aber von Seiten der Ärztekammer abgelehnt wurde. Umgekehrt wollten die Ärzte OTC-Präparate in der eigenen Ordination verkaufen, was natürlich nicht gerade Jubelstürme bei den Apothekern ausgelöst hat. Es hat einige Zeit gedauert, bis man sich verständigen konnte, denn es gab – ähnlich wie bei ELGA – immer wieder große Widerstände. Daher hat es etwas gedauert, bis der komplette Roll-Out organisiert wurde. Ich halte die E-Medikation für einen richtigen Schritt und die praktische Umsetzung für ein gutes System. Der entscheidende Punkt ist, dass sich die Rolle der Apotheken verändern wird. Denn der Patient kann von mehreren Ärzten Verschreibungen bekommen und erst der Apotheker sieht durch die E-Medikation, ob hier mögliche Wechselwirkungen auftreten können. Die Apotheke ist dann die Schnittstelle für die Beratung beim Kunden.

Stichwort Beratung: Die Apotheken werden derzeit mit der preisabhängigen Apothekenspanne honoriert. Diese fällt aber immer geringer aus, da die Preise im Sinken sind. Die wirtschaftliche Situation wird schwieriger, weil die Kosten für Personal etc. steigen. Wie sehen Sie, als ehemaliger Vorsitzender des Hauptverbandes das – soll die Beratungsleistung extra honoriert werden?

Erstens muss man sagen, sinken die Spannen durch den verstärkten Einsatz von Generika, die einfach preisgünstiger sind. Ich glaube natürlich, dass bestimmte Beratungsleistungen, die über das normale Volumen hinausgehen auch honoriert werden sollten. Entscheidend für mich ist, dass man im Zuge einer groß angelegten Reform die Kompetenzfragen klärt: Welcher Berufsstand soll was tun und welche Leistung erbringen? Dieses Ergebnis gehört auch in der Praxis umgesetzt. Zweitens muss man überlegen, ob man bei sinkenden Spannen langfristig alle Leistungen aufrechterhalten kann. Heute ist vor allem die nächtliche Versorgung durch Apotheken hervorragend und die soll auch so bleiben und daher muss man sich mit diesem Thema befassen. Ich glaube, dass die Apotheken in der Versorgungskette des Gesundheitssystems eine wichtige Rolle einnehmen. Daher muss man sie stärker als in der Vergangenheit in das Gesamtversorgungssystem einbinden. Hier gibt es ja viele Diskussionen. Aber ich glaube schon, dass die Rolle der Apotheken, weil sie so nahe am Patienten sind, relativ viel umfangreichen Patientenkontakt haben sehr viel an Know-how transportieren können, dass die Rolle der Apotheken gestärkt werden muss.

Haben Sie eine Idee, wie man diese Rolle stärken könnte?

Da gibt es viele Varianten dazu, aber zuerst muss man die Rechtsgrundlage schaffen, um festzustellen, was man überhaupt tun darf. Ich möchte hier an die Diskussion erinnern, ob in der Apotheke Blutdruck gemessen werden darf und ob dieses oder jenes gemacht werden darf. Die Zuständigkeiten und Befugnisse gehören vom Gesetzgeber sauber geregelt, damit jeder genau weiß, was er tun darf und daraus abgeleitet seine Leistung strukturieren kann.

Ein Thema ist ja unter anderem auch das Impfen in der Apotheke. Sind Sie dafür, dass in der Apotheke geimpft wird?

Ich glaube, dass das eine denkbare Variante ist, aber wie gesagt, dazu muss man die Rahmenbedingungen klären.

Sie haben vor kurzem angekündigt nächstes Jahr ein „Weißbuch Gesundheit“ veröffentlichen zu wollen. Was ist das Ziel dieses Weißbuches?

Die Idee ist, aus einer ganzheitlichen Sicht, eine Art Handlungsempfehlung zu entwickeln. Dabei geht es nicht um die Frage der Zusammenlegung der Krankenkassen oder die Anzahl der Gruppenpraxen. Sondern die erste Frage, die sich für die Experten und mich beim PRAEVENIRE Kick-off im Mai stellt, ist: wir können wir bei steigender Lebenserwartung und bei steigenden Kosten durch den medizinischen Fortschritt die Gesundheitsversorgung optimiert aufrechterhalten. Und zwar ohne Erhöhung der Beiträge oder ähnliche Maßnahmen. Hier gibt es eine Menge an Potenzial, das man auf dieser Metaebene analysieren muss. Beide Faktoren sind bekannt – über die älter werdende Gesellschaft muss man nicht weiter nachdenken. Wir schauen uns aber auch den medizinischen Fortschritt genauer an. Denn was im Bereich Pharma, Medizintechnik oder ärztliche Intervention passiert, verursacht Kosten und hat eine Wechselwirkung mit den älter werdenden Menschen, die mehr medizinische Betreuung brauchen. Unter diesem Metaaspekt wollen wir nicht nur Strukturen, sondern auch Innovationen, Wissenschaft, Forschung, Versorgungseinrichtungen, Patientenverhalten, Eigenverantwortung und Prävention beleuchten. Also ein sehr breites Spektrum, das einen ganzheitlichen Blick auf die Gesundheit bringen wird. Aus diesen Expertengesprächen, die jetzt im Mai beginnen und sich über rund ein Jahr erstrecken werden, entwickeln wir ein Weißbuch als Handlungsempfehlung für die Gesundheitspolitik. Ziel dabei ist, dass die relevanten Stakeholder an einem Tisch sind, ihre Vorstellungen offen präsentieren und einen Konsens finden. Die politische Reaktion ist ja normalerweise so: der eine macht einen Vorschlag, der andere lehnt ihn ab. Das bringt uns nicht wirklich weiter. Unser Weißbuch soll für die Gesundheitspolitik der Zukunft richtungsweisend sein und von allen relevanten Stakeholdern mitgetragen werden.

Wie wollen Sie die Politik dazu bewegen, die von Ihnen erdachten Reformschritte auch tatsächlich umzusetzen?

Das ist, wie wir wissen, immer das Schwierigste. Allerdings wenn hunderte Experten des Gesundheitswesens zu einem Ergebnis kommen, bei dem der Patient im Mittelpunkt steht, dann wird auch die Politik gefordert sein, sich das anzusehen und zumindest teilweise  umzusetzen. Aber natürlich ist dies ein schwieriges Unterfangen, weil es auch seitens der Politik völlig unterschiedliche Auffassungen gibt. Wir wollen auf Expertenebene versuchen, optimale Lösungen zu bringen, die zwar gesundheitspolitischer Natur sind, aber nicht politisch. Denn die Politik ist gefordert das umzusetzen.

 Ist die Apothekerschaft in das Projekt eingebunden?

Die Apothekerinnen und Apotheker sind voll involviert. Sie sind wichtige Partner und sehr engagiert. Wir haben wie gesagt versucht, ein ganz breites Spektrum zu bringen, sodass die Stakeholder, die im Gesundheitssystem tätig sind, dazu ganz offen ihre Positionen, ihre Meinungen, ihre Wünsche äußern können. Unsere Aufgabe in der Moderation dieser Dinge ist, dafür zu sorgen, dass nicht alles zerdiskutiert wird, sondern dass man dann eben versucht, möglichst im Dialog. Und den Versuch zu unternehmen, diese unterschiedlichen und möglicherweise auch kontroversiellen Meinungen unter einen Hut zu bringen und als Experten dieses Weißbuch dann als Grundlage für eine Gesundheitsversorgung der Zukunft zu machen.

Was sind Ihrer Meinung nach die brennendsten Themen, die man unbedingt angehen sollte?

Im ökonomischen Bereich ist es sicher das Thema der Ordnung der Finanzströme und der Finanzierung aus einem Topf. Auch der Übergang zwischen intra- und extramuralem Bereich gehört besser gesteuert, denn dort liegen Ineffizienzen, die Geld vernichten. Und dieses Geld werden wir dringen brauchen, um uns die immer teurer werdenden medizinischen Leistungen auch finanziell leisten zu können.

Wie sieht Ihr Zeitplan dafür aus?

Jetzt im Mai findet eine große dreitägige Kick-off-Veranstaltung in Seitenstetten statt. Wir laden Experten ein, die in Arbeitsgruppen über rund zwölf Monate hinweg die wichtigsten Themen der Gesundheitsversorgung in Österreich analysieren und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Diese Ergebnisse werden anschließend von einem Redaktionsteam im vorhin erwähnten Weißbuch zusammengefasst. Unser Ziel ist, diesen Prozess binnen eines Jahres abzuschließen.