29. Juli 2024Highlights vom 30. Schmerzkongress

ÖSG-Kongress: „Wir müssen viel mehr auf unsere Haltemuskulatur achten!“

Der Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft, Ao. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner von der Medizinischen Universität Innsbruck, sprach mit medonline über die Highlights des 30. Kongresses der ÖSG.

medonline: Herr Prof. Eisner, was waren Ihre Highlights des diesjährigen Schmerzkongresses?

Wilhelm Eisner: Der 30. Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) legte einen Hauptschwerpunkt auf die Gendermedizin.

Portrait ÖSG-Präsident Wilhelm Eisner.
MedTriX/Lukas Unger

Ao. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner

Dazu hatten wir hervorragende Vorträge. Unter anderem wurden die Unterschiede bei Schmerzen zwischen Frau und Mann dargestellt, die Komplexität der hormonellen Einflüsse diskutiert, Unterleibsschmerzen und vor allem auch auf die Endometriose eingegangen. Aber auch der Schmerz des Mannes war Thema. Prof. Dejaco sprach über den Männerschnupfen, der wissenschaftlich untersucht wurde. Letztendlich hat sich dabei gezeigt, dass die Männer zwar mehr klagen, aber die Frauen schmerzempfindlicher sind, wenn sie Schnupfen haben und krank sind. Sie beachten ihre Symptome aber weniger als Männer. Das war sehr interessant.

Parallel zu der ÖSG-Tagung gab es auch eine 2-tägige Veranstaltung für die Pflege zum richtigen Umgang mit Schmerz und wie man Schmerzen am Krankenbett erkennt. Auch diese Vorträge waren gut besucht.

Ein großes Thema war auch die integrative Schmerzmedizin. Im Speziellen ging es hier darum, den chronischen Rückenschmerz und den unspezifischen Rückenschmerz mit seinen komplexen Behandlungsstrategien darzustellen, ohne Rücksicht auf die Etiketten Schulmedizin oder alternative Behandlungsmethode.

Sie selbst haben auch einen Vortrag zu Muskeln, Faszien und Schmerzen gehalten. Worum ging es dabei?

Genau, ich bin auf die Faszien eingegangen. Das Problem, das wir haben, ist, dass zwar bekannt ist, dass es wichtig ist, sich zu bewegen. Aber weder die Gesellschaft noch die Ärzteschaft hat verstanden, dass es 2 verschiedene Systeme gibt, die trainiert werden wollen. Einerseits gibt es Muskeln, die für die Bewegung zuständig sind – diese werden im Fitnessstudio oder durch Joggen pausenlos trainiert. Und dann gibt es die Muskeln, die für die Haltung wichtig und zuständig sind. Sie halten die Wirbel zusammen und stabilisieren unsere aufrechte Haltung. Dazu gehören z.B. die Adduktoren innen an den Oberschenkeln, die am Becken und Schambein ansetzen. Wenn die nicht gedehnt und gekräftigt werden, ziehen sie das Schambein nach unten, ohne dass die Personen es merken. Unterstützend verkürzen sich die Rückenstrecker im unteren Bereich auch, und zwar so, dass kleine Muskelverkrampfungen entstehen, in deren Zentrum eine Minderdurchblutung passiert. Dadurch verändert sich dort der pH-Wert und es kann im Gewebe zu Verkalkungen kommen. Das ist das Endstadium der Myogelosen, mit positiven Triggerpunkten in der körperlichen Untersuchung, die eigentlich ein Symptom des myofaszialen Syndroms sind. Das kennen Ärztinnen und Ärzte kaum.

Es wird zwar zu Bewegung geraten, aber das passiert in Positionen, die bereits Schmerzen verursachen. Die Durchblutungsverbesserung durch die Bewegung ist zwar perfekt, aber die Menschen müssen viel stärker die Haltungsmuskulatur adressieren.

Stattdessen werden chirurgische Eingriffe gemacht, um die Ergebnisse der falschen Haltung zu korrigieren. Beispiele für eine falsche Belastung der Füße sind Hallux valgus und Morton-Neurome, die zwischen den Zehen entstehen, wenn das Bindegewebe durch die Vorfußbelastung immer mehr wird und der Platz für die Zwischenzehennerven immer weniger wird. Durch das Vorfußstehen kommt es zur Hypertrophie des Bindegewebes, das führt zu Einengungen der Nerven, die dann reaktiv reagieren, indem sie auftreiben und zu elektrisierenden Schmerzen zwischen den Zehen führen. Diese Nervengeschwulste werden operiert, anstatt die Haltung in eine bewusste und aufrechtere Haltung zu korrigieren.

Wie gehen Sie mit diesen Patientinnen und Patienten um?

Ich mache mit solchen Patientinnen und Patienten Übungen, um ein Bewusstsein für ihre Fehlhaltung zu schaffen und durch diese speziellen Übungen, die ein gewisses „Missing Links“ zwischen den Muskelsystemen darstellen, ihre aufrechte Balance wiederherzustellen. Diese Menschen haben zwar eine tonische Muskulatur, das ist Haltemuskulatur, diese hat sich durch nicht-Gebrauch verkürzt, um bei verminderter Muskelmasse sein Aufgabe als Haltemuskulatur suffizient auszuführen zu können. Aus diesem Grund muss zuerst gedehnt und dann gekräftigt werden. Sind die Adduktoren nicht trainiert, verkürzen sie sich, ziehen das Schambein nach unten, verkippen das Becken nach vorne und führen damit ins Hohlkreuz. Dann folgt der Rundrücken, der Kopf neigt sich nach vorne, die Ohrlöcher stehen nicht über der Schultermitte. Das sehen wir pausenlos bei unseren Patientinnen und Patienten.

Wir müssen mehr Augenmerk auf die Haltemuskeln legen und das wird durch statische Spannung erreicht. Die Fibroblasten brauchen 20–30 Sekunden, um zu reagieren. Das heißt, Übungen müssten am besten 60–90 Sekunden durchgeführt werden, damit sich das Bindegewebe und die Faszie verändern und diese Veränderung auch im Gehirn über Nacht durch Lernen festgeschrieben wird.

Ich habe auch in meinem Vortrag darauf hingewiesen, dass 2- bis 3-mal Vibration für 20 Minuten pro Woche eine Osteoporose, die schon nachgewiesen ist, wieder rückgängig machen kann.

Sie haben vorhin das Thema Gendermedizin angesprochen. Wie sehr werden Frauen in der Schmerzmedizin denn beachtet?

Grundsätzlich gilt, dass es so ist, dass wir viel mehr Frauen als Vortragende gewinnen sollten. Es gibt ja auch viel mehr Medizinstudentinnen als Medizinstudenten und somit sollten die auch vor den Vorhang geholt werden. Außerdem müssen wir die Schmerzen der Frauen, die hormonell und strukturell anders aufgebaut sind und auch anders denken als Männer, auch hinsichtlich der Medikamente berücksichtigen. Die Forschung darf nicht mehr den 30-jährigen schlanken Mann als Forschungsobjekt hernehmen, der ganz andere Dosierungen braucht als Frauen oder auch Kinder und alte Menschen.

Im Vorfeld der Tagung gab es eine Pressekonferenz, die auf Mängel in der Schmerzmittelversorgung aufmerksam machte.

Das ist ein großes Problem, das wir haben. Manche Medikamente können nicht geliefert werden. Das ist aber nicht durch die Knappheit der Medikamente bedingt, sondern dadurch, dass der Hauptverband die Preise vorgibt und manche Preise unter den Herstellungskosten liegen. Für 75µg-Morphinpflaster z.B., die die Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen benötigen, liegen die Preise bei 40–60% der Herstellungskosten. Da sind Vertrieb und Verpackung noch gar nicht dazugerechnet. Deutschland und die Schweiz zahlen aber das 4-Fache des österreichischen Preises. Natürlich werden diese Länder dann eher beliefert. Deshalb brauchen wir in Europa eine Harmonisierung der Medikamentenkosten.

Welchen Stellenwert hat die Schmerzmedizin in Österreich Ihrer Meinung nach?

Nehmen wir zum Vergleich wieder unsere deutschsprachigen Nachbarländer Deutschland und die Schweiz her: Die ÖSG hat in Österreich bei 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner 620 Mitglieder. Die Deutsche Schmerzgesellschaft hat bei 90 Millionen 3.500 Mitglieder. Die Schweizer haben 245 Mitglieder in der Schmerzgesellschaft. Da sind wir sehr gut aufgestellt!

Das ist derzeit noch der Aktivität einzelner Personen geschuldet, von denen viele in der ÖSG aktiv sind, wie etwa die Past-Präsidentin Waltraud Stromer, die großen Wert darauf legt, die nächste Generation an Schmerzmedizinerinnen und Schmerzmedizinern anzusprechen und an den Beruf heranzuführen. Auch Rudolf Likar, der unermüdlich daran gearbeitet hat, dass neben den Kursen für das Österreichische Schmerzdiplom ein Schmerzzertifikat neben dem Facharzt erworben werden kann. Der Schmerz ist nicht nur ein Symptom sondern auch ein Krankheit, die bisher in den einzelnen Fächern so mitläuft, aber eine viel größere Aufmerksamkeit bedarf, um unsere leidenden Mitmenschen optimal behandeln zu können und die Schmerzmedizin sollte nicht nur von engagierten Ärztinnen und Ärzten betrieben werden, sondern als wichtiger Teil unseres Arztseins verstanden werden. Die Schmerzmedizin muss auch im Österreichischen Strukturplan Gesundheit festgeschrieben werden.

Gab es weitere Highlights, die Sie nicht unerwähnt lassen möchten?

Wir haben die Akademie in der ÖSG, in der wir die Fortbildungskurse machen. Und über den Überschuss, der dabei erwirtschaftet wird, konnten wir Preise für Projekte aus der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung vergeben. Wir haben 6 Projekte mit je 5.000 Euro unterstützt. Diese Projekte müssen dann nächstes Jahr vorgestellt werden und es muss gezeigt werden, wie sich das entwickelt hat. Außerdem haben wir einen Medienpreis vergeben.

Wir haben uns in Kärnten sehr willkommen gefühlt. Die Landeshauptfrau hat sogar extra eine Sitzung unterbrochen, um uns willkommen zu heißen. Auch der Vorstand der KABEG hat uns begrüßt. Das heißt schon was, dass die Schmerzmedizin so einen Stellenwert hat.

Natürlich wäre der Kongress auch ohne die zahlreichen Austeller nicht machbar gewesen. Die Plätze waren komplett ausgebucht und es gab interessante Angebote.

Auch dass die Tagung gestreamt wurde, ist sehr gut angekommen. Alles in allem blicken wir auf einen gelungenen Kongress zurück und ich freue mich auf das nächste Jahr, in dem wir uns in Krems treffen werden.

Danke für das Gespräch!