24. Jän. 2024Drogenkonsum bei Minderjährigen

Tirol: Drogen-Mischkonsum bei Jugendlichen nimmt massiv zu

Das Schmerzpflaster der Großeltern, Straßenverkauf, Darknet – die Jugendlichen nehmen, was sie kriegen. Damit steigt auch der gefährliche Mischkonsum, ein neues Phänomen, berichten Expertinnen und Experten im Vorfeld des Kongresses für Kinder- und Jugendpsychiatrie Innsbruck von 26.–27.1.2024.

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Prim. Univ. Prof. Dr. Kathrin Sevecke und OA Dr. Klaus Kapelari

Es handle sich heuer um ein „brisantes“ und an Häufigkeit zunehmendes Thema: „Konsumierende Jugendliche – ein gemeinsamer Blick“. Zum 10. Mal lädt Prim. Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sevecke, Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Hall und Direktorin der Innsbrucker Univ.-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, zum Kongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Auffallend sei, dass die Jugendlichen „alle Substanzen einnehmen, die sie sich im Moment beschaffen können“, betont Sevecke. „Das kann das Schmerzpflaster der Großeltern sein, Schmerztabletten, die Erwachsene ihnen auf der Straße verkaufen, Medikamente aller Art“, bringt sie Beispiele, „und auch die bekannten Drogen wie Kokain, Cannabis und Ecstasy-Pillen.“

Mit „multitoxischen Vergiftungen“ in die Ambulanz

Dieses „wahllose“ Konsumverhalten sei neu. Auch das Darknet sei eine Bezugsquelle. „Viele der Jugendlichen werden mit multitoxischen Vergiftungen in unsere Ambulanz eingeliefert“, berichtet OA Dr. Klaus Kapelari, Leitender Oberarzt an der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Leiter der Kinderschutzgruppe und der Kindernotfallambulanz an der Innsbrucker Klinik.

Im Jahr 2022 vermerkte die Notaufnahme laut Kapelari etwa 350 Kontakte mit Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren mit einer Intoxikation. Das Geschlechterverhältnis war dabei ziemlich ausgeglichen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie verzeichnete 71 stationäre Aufnahmen wegen Substanzkonsums, mehr als 85% davon waren Akutaufnahmen. Ein Jahr später, 2023, waren es mit knapp 50 Aufnahmen weniger, davon wiederum über 85% akut.

Gefährliche Kombination: Benzodiazepine und Opioide

Vor der Corona-Pandemie habe es innerhalb von 3 Jahren maximal 5 stationäre Aufnahmen wegen Mischkonsums gegeben. In den Pandemiejahren seien es hingegen 70–90 Aufnahmen gewesen. Derzeit habe man in Tirol etwa 90–95 Jugendliche mit Mischkonsum im Blick. Davon sind Kapelari zufolge 70 „akut gefährdet“ – mit mindestens einer stationären Aufnahme. Vital bedrohlich sei insbesondere die Kombination von Benzodiazepinen und Opioiden.

Als Gründe für den massiv gestiegenen Mischkonsum nennt Sevecke die Corona-Pandemie, Krieg, Klimakrise und andere Krisen. Jugendliche, die befragt wurden, hätten erklärt, dass sie sich „betäuben“ möchten. „Immer schon erkennen wir, dass Jugendliche der Seismograf unserer Gesellschaft sind“, sagt Sevecke. Die derzeitige gesellschaftliche Stimmung färbe ab. Auch übermäßiger Medienkonsum, Internet- und Computerspiele würden dazu beitragen, dass es Jugendlichen schlechter gehe.

Tenor: „Ich mag nicht mehr“

Wer kein gefestigtes soziales Umfeld habe, kippe leichter in eine „Spirale aus Ausweglosigkeit, Betäubung durch Konsum, Verlust der Tagesstruktur und Langeweile“, erläutert Sevecke. Der Tenor laute: „Ich mag nicht mehr.“ Betroffene kämen übrigens aus allen sozialen Schichten.

Was man auch nicht übersehen dürfe: Viele Jugendliche kämen am Weg zur Beschaffung der Substanzen in eine weitere „kriminelle Spirale“. Prostitution, gewalttätige Übergriffe, Drogenhandel würden die Betroffenen zusätzlich traumatisieren und eine Rückkehr in ein geregeltes Leben massiv erschweren. Sevecke glaubt nicht, dass die Zahlen zu den stationären Aufnahmen deutlich sinken, sondern sich „einpendeln“ werden.

In die Ambulanz eingelieferte Jugendliche bekommen das Angebot, sich stationär oder auch ambulant helfen zu lassen. Ab 14 Jahren dürfen sie selbst entscheiden, ob sie sich in eine Behandlung begeben. Drei Viertel der Jugendlichen würden das Angebot vorerst annehmen, berichtet Sevecke, viele davon es aber wieder abbrechen.

„Home Treatment“, weil bis zu 50% der Plätze fehlen

Die stationären Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall sind auf 6 Wochen angelegt – mit der Option auf Verlängerung. Auch ambulante Behandlungsmöglichkeiten sind möglich. Darunter findet sich seit Ende 2023 erstmalig das sogenannte Home Treatment: Ein mobiles und multidisziplinäres Team aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie, Sozialpädagogik, Pflege und Sozialarbeit betreut die Jugendlichen zuhause.

Man könnte aber auch gar nicht alle betroffenen Jugendlichen stationär behandeln, sagt Sevecke, dafür würden bis zu 50% der Plätze fehlen. Die Psychiaterin wünscht sich, mit dem Home Treatment künftig „Stationsäquivalente“ zu schaffen. In Tirol bestehe eine „gute Zusammenarbeit“ zwischen den zuständigen Kliniken und externen Einrichtungen. Sozialarbeiter, Drogenberatungen, Pädagogen, Anlaufstellen wie pro mente, Z6 und andere Netzwerke würden hier zusammenarbeiten.

Den Kongress sieht Sevecke als „sehr wertvolle Gelegenheit“, alle beteiligten Einrichtungen, Beratungsstellen, „und viele mehr an einen Tisch zu holen und in Vorträgen und Workshops dieses leider sehr akute Thema intensiv zu bearbeiten und die neuesten Erkenntnisse bekannt zu machen“.

Pressekonferenz „Jugendliche und Drogenkonsum – ein Blick aus vielen Richtungen“, Innsbruck, 23.01.2024