Probleme nicht verleugnen, Menschen nicht aufgeben!
Um Suchtkranke fair zu behandeln, lohnt es sich, sich auch mit der Stigmatisierung auseinanderzusetzen, denen solche Patienten ausgesetzt sind – und zu versuchen, nicht in die „Falle“ zu tappen. Gleichzeitig darf die Entstigmatisierung von Betroffenen aber nicht zur Verleugnung von realen Konflikten führen, wie Suchtforscher Prof. Dr. Alfred Uhl im Gespräch mit medonline betont.

Menschen mit Suchtproblemen tragen nicht nur die Last ihrer Erkrankung, sondern auch die Stigmatisierung durch die Gesellschaft. Das reicht etwa von abschätzigen Begriffen bis zu subtilen, aber spürbaren Ausgrenzungen im Alltag – nicht zuletzt oft auch in der Arztpraxis.
Prof. Dr. Alfred Uhl, stellvertretender Abteilungsleiter am Kompetenzzentrum Sucht der Gesundheit Österreich GmbH, betont, dass Vorurteile in der Suchtpolitik ein zentrales Thema sind – gerade, weil sie den Zugang zu Behandlung und Unterstützung erschweren.
„Wichtig ist Professionalität: der individuellen Person würdevoll zu begegnen, auf Augenhöhe, auch wenn es schwierig ist“, so Uhl. Dazu gehören Toleranz, Empathie und Lösungsorientierung – Werte, die in der täglichen Arbeit mit Betroffenen den Unterschied machen können.
Antistigmatisierung darf Probleme nicht verleugnen
Die Forderung nach weniger Stigmatisierung sei grundsätzlich positiv. „Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung ist es ein Fortschritt, dass Menschlichkeit, Toleranz und Vorurteilsfreiheit so stark eingefordert werden.“ Gleichzeitig wird der Diskurs zur Antistigmatisierung laut Uhl derzeit oft dogmatisch überhöht und teilweise überschießend geführt: „Jede kritische Auseinandersetzung mit dem Thema wird heute häufig als Angriff auf diese durchwegs sinnvolle humanitäre Bewegung verstanden.“ Dabei helfe es Betroffenen mit Suchterkrankungen keineswegs, reale Probleme, die damit verbunden sind, zu verleugnen.
Uhl plädiert deshalb für eine differenzierte Sichtweise: Verständnis, wo es möglich ist – und Grenzen, wo sie notwendig sind. Konflikte mit Suchtkranken – egal ob als Patienten, Mitarbeiter, Nachbarn oder Familienmitglieder – müssten klar angesprochen werden dürfen, ohne dass dies automatisch als „Stigmatisierung“ gilt. Nur so könne ein realistischer, respektvoller Umgang mit Suchtkranken gelingen.
Die Rolle der Sprache
Besonders sensibel ist der Umgang mit Begriffen. Viele Worte rund um Alkohol und Drogen sind negativ belegt – von „Alkoholiker“ bis „Trunksucht“. Ständig neue Umschreibungen zu suchen, löse das Problem laut Uhl aber nicht. Im Gegenteil: Für manche sei gerade die Selbstbezeichnung „Alkoholiker“ ein wichtiger Schritt, um ihre Erkrankung anzunehmen. „Das ist keine Selbststigmatisierung, sondern kann helfen, die eigene Identität zu stabilisieren und Abstinenz zu sichern“, erklärt er.
Motivierende Gesprächsführung: Auch kleine Schritte zählen!
Gerade für Ärztinnen und Ärzte stellt die Arbeit mit Suchtpatienten eine besondere Herausforderung dar. So müssen sie respektvoll kommunizieren, ohne Probleme zu verharmlosen, und gleichzeitig im engen Zeitbudget Lösungen anstoßen. „Wenn man in 30 Sekunden sagt: ‚Sie haben erhöhte Leberwerte, Sie trinken zu viel‘, dann führt das fast zwangsläufig zu Widerstand“, fasst Uhl zusammen.
Als praktisches Hilfsmittel bei der Kommunikation mit Suchtkranken habe sich die motivierende Gesprächsführung bewährt. „Dabei gibt man Patienten Zeit, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen, anstatt mit der Tür ins Haus zu fallen.“ Ziel sei es, Einsicht zu fördern und kleine Schritte ernst zu nehmen – etwa eine Trinkmengenreduktion oder kontrolliertes Trinken –, anstatt ausschließlich auf sofortige Abstinenz zu bestehen. Diese Haltung erfordere Empathie, Geduld und eine klare professionelle Grundhaltung. Zieloffene Suchtarbeit, wie sie etwa in der Substitutionsbehandlung etabliert ist, habe längst auch den Alkohol- und Tabakbereich erreicht, sagt Uhl. „Man muss realistisch von dem ausgehen, was möglich ist, und versuchen, schrittweise zu einer Lösung zu kommen.“
Versorgungssystem zwischen Anspruch und Realität
Im internationalen Vergleich gibt es in Österreich relativ viele Angebote – von niedrigschwelligen Hilfen bis zu spezialisierten Einrichtungen. Dennoch bleibt die Frage der Ressourcen: „Wenn Hausärzte für ein Gespräch nur fünf Minuten Zeit haben, wird es schwierig, im Sinne der Entstigmatisierung zu arbeiten“, so Uhl. Wünschenswert wären daher mehr Möglichkeiten zur Honorierung längerer Beratungsgespräche und eine stärkere Verankerung von Kompetenzen zur Suchthilfe in der Ausbildung.
Angehörige weder unter Generalverdacht stellen noch zu „Härte“ drängen
Ein weiteres Problem sieht Uhl im Diskurs zur sogenannten Co-Abhängigkeit. „Dass das Verhalten von Angehörigen Einfluss auf den Suchtkranken haben kann, ist unbestritten – aber die pauschale Zuschreibung von Schuld an Eltern, Partner und Kinder ist meistens überzogen.“
Gleichzeitig sei es auch unsinnig, konsequent „gnadenlose Härte“ im Umgang mit Betroffenen zu fordern. „Auch hier braucht es Verhältnismäßigkeit – weder radikale Härte noch grenzenlose Nachsicht sind sinnvoll.“