Li-Fraumeni-Syndrom (LFS): Wenn Krebs in der Familie kein Zufall ist
Als Andrea Prantner mit nur 28 Jahren einen Knoten in ihrer Brust ertastete, ahnte sie nicht, dass diese Entdeckung nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie verändern würde. Die Diagnose Brustkrebs kam unerwartet. Bislang hatte es in der Familie keine Krebserkrankungen gegeben und es deutete nichts auf ein erblich bedingt erhöhtes Risiko hin. Doch hinter der Erkrankung steckte mehr: eine genetische Veränderung, die das Leben betroffener Menschen tiefgreifend beeinflusst – das Li-Fraumeni-Syndrom (LFS).

Was ist das Li-Fraumeni-Syndrom?
Das LFS ist eine seltene Erkrankung, die mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergeht und durch erbliche Veränderungen im TP53-Gen, einem der wichtigsten Krebs verhindernden Gene der Zelle, verursacht wird.
Dieses Gen spielt eine Schlüsselrolle bei der Reparatur oder Elimination von Zellen, die sich zu Krebszellen entwickeln. Menschen mit LFS haben daher ein deutlich erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens an mehreren, oft sehr unterschiedlichen Krebsarten zu erkranken. Und das häufig schon in sehr jungen Jahren.
Andrea Prantners Geschichte
Andrea Prantner lebte in den USA, als sie 2011 die Diagnose Brustkrebs erhielt. Der Tumor war bereits relativ groß und hatte gestreut. Ein BRCA1/2-Test – damals schon Standard in den USA bei jungen Brustkrebspatientinnen – fiel negativ aus.
Doch die genetische Beraterin Prantners blieb, aufgrund des ungewöhnlichen Befundes, hartnäckig und veranlasste weitere Tests. Das Ergebnis: eine Mutation im TP53-Gen und die Diagnose LFS.
Was zunächst wie ein Einzelschicksal wirkte, entpuppte sich als genetisches Risiko für die gesamte Familie der Physikerin. Kurz darauf wurde bei Andreas Mutter erstmals Darmkrebs diagnostiziert, weitere Krebserkrankungen folgten. Später erkrankte auch eine ihrer Schwestern an Brustkrebs – an zwei unterschiedlichen Tumoren gleichzeitig.
Für Andrea begann ein neuer Lebensabschnitt: Mastektomie, Chemotherapie, eine Bandscheiben-OP nach einem Unfall kurz zuvor – das Leben, so sagt sie heute, „zerbröselte zwischen den Fingern“.
Ein Gen, viele Gesichter
Prof. Dr. Christian Kratz, Kinderonkologe an der Medizinischen Hochschule Hannover, interessierte sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn als Kinderarzt für Onkologie auch für die Genetik. Im Laufe seiner Karriere arbeitete er unter anderem in den USA bei Joseph Fraumeni Jr. am National Cancer Institute. Als 2012 der Ruf aus Hannover kam, folgte er ihm und widmet sich seither wissenschaftlich dem Thema erblicher Krebsprädispositionssyndrome.

Prof. Dr. Christian Kratz
Im Gespräch erklärt er, warum ihn dieses Feld bis heute nicht loslässt: „Wenn wir die Ursachen von Krebs verstehen, können wir vielleicht irgendwann Methoden entwickeln, um das Krebsrisiko zu reduzieren.“
Bereits 2017 baute er in Deutschland ein Register für LFS-Betroffene auf und erforscht seither intensiv an der Erkrankung. „Wir haben viel darüber gelernt, wie wir anhand der genauen TP53-Variante das Krebsrisiko einschätzen können.“
Früherkennung ist entscheidend
Die Diagnose LFS bedeutet für Betroffene: lebenslange, intensive Vorsorge. In Österreich und Deutschland stehen mittlerweile umfassende Früherkennungsprogramme speziell für Menschen mit LFS zur Verfügung.
Regelmäßige Ganzkörper-MRTs, Ultraschalluntersuchungen und engmaschige Kontrollen der inneren Organe und Haut sind nur einige der Maßnahmen, der sich Betroffene regelmäßig unterziehen müssen.
Ziel dieser eng abgestimmten Untersuchungen ist es, Tumore so früh wie möglich zu entdecken, um rasch mit einer geeigneten Therapie beginnen zu können.
Ein Leben zwischen Angst, Kontrolle und Hoffnung

Andrea Prantner beim Klettern.
Andrea Prantner lebt mittlerweile wieder in Europa und ist sowohl im Brustzentrum der Universitätsklinik in Innsbruck als auch am Universitätsklinikum Heidelberg zur regelmäßigen Vorsorge angebunden. Sie ist dankbar für die gute und verlässliche medizinische Versorgung und auch für die Unterstützung durch eine professionelle Psychotherapie.
Denn die Angst, sie ist ein ständiger Begleiter: „Sobald irgendetwas im Körper auffällig ist, denkt man sofort an das Schlimmste.“ Die Selbsthilfegruppe der Deutschen Li-Fraumeni-Association (LFSA) wurde für sie zur wichtigen Anlaufstelle – für Informationen, Austausch und das Gefühl, nicht allein zu sein. Ratsuchende aus Österreich sind bereits in der Gruppe aktiv eingebunden und herzlich willkommen.
Kinderwunsch mit genetischer Last
Nach ihrer zweiten Brustkrebserkrankung im Jahr 2016 schien das Thema Kinderwunsch für Andrea abgeschlossen – bis 2020 ihr „Corona-Wunder“ zur Welt kam. Die Angst, das Gen weitergegeben zu haben, war groß: Bei einer autosomal-dominaten Vererbung liegen die Chancen 50 zu 50. Doch der Gentest ihres Kindes brachte Erleichterung: negativ.
Anders verlief es bei ihrer Schwester, die ebenfalls LFS hat. Sie wollte bei ihrer Familienplanung kein Risiko eingehen und entschied sich für eine Untersuchung der befruchteten Eizellen. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland ist dies nur mit Genehmigung einer Ethikkommission erlaubt.
Obwohl die Eizellen in Innsbruck entnommen wurden, konnte das Verfahren in Österreich aufgrund komplexer bürokratischer Hürden nicht umgesetzt werden und es bestand somit keine Möglichkeit, einen Antrag bei der zuständigen Ethikkommission in Österreich einzubringen. Erst mit der Zustimmung der bayrischen Ethikkommission konnte der Wunsch nach einem gesunden Kind erfüllt werden – das Baby kam ohne LFS zur Welt.
LFS ist selten, aber folgenschwer
Noch immer ist das LFS wenig bekannt. In Deutschland sind rund 450 Betroffene registriert. In den USA geht man davon aus, dass rund eine von 3.000 bis 10.000 Personen betroffen ist. Auf Österreich umgelegt wären das theoretisch bis zu 900 Menschen – viele davon, vermutlich ohne es zu wissen. Denn nur eine Testung kann Klarheit bringen und die entscheidende Diagnose ermöglichen.
Kriterien für eine Testung auf LFS
- Ein Patient hat die Diagnose eines Sarkoms im Alter ≤45 Jahren
UND - Ein erstgradig Verwandter (Vater, Mutter, Kinder) erkrankte im Alter ≤45 Jahren an Krebs
UND - Ein erst- oder zweitgradig Verwandter (Großeltern, Geschwister, Enkel) erkrankte im Alter ≤45 Jahren an Krebs oder entwickelte ein Sarkom unabhängig vom Erkrankungsalter.
Bei nachfolgenden Kriterien sollte eine Untersuchung auf das Vorliegen eines LFS erfolgen (einer der folgenden Punkte muss erfüllt sein). Ein Patient hat:
- Einen Tumor des LFS-Tumorspektrums vor dem Alter von 46 Jahren
UND
mindestens einen erst- oder zweitgradig Verwandten mit einem LFS-Tumor (außer Brustkrebs, wenn der Patient selbst Brustkrebs hat) vor dem Alter von 56 Jahren oder bei mehreren Tumoren; - Mehrere Tumore (außer Brustkrebs), von denen zwei zum LFS-Tumorspektrum gehören und die vor dem 46. Lebensjahr auftraten;
- Einen Nebennierenrindentumor (ACC, die Nebenniere ist kleines Organ oberhalb der beiden Nieren gelegen), ein Choroid-Plexus-Tumor (ein seltener Hirntumor) oder ein embryonales anaplastisches RMS (ein besonderer Weichteiltumor) unabhängig von der Familienanamnese;
- Brustkrebs vor dem 31. Lebensjahr.
(Quelle: Webseite der LFSA-Deutschland, abgerufen:14.08.25)
Nur wer von einer genetischen Variante weiß, kann gezielte Vorsorgemaßnahmen ergreifen und damit auch die Familie schützen. Ebenso ist für bereits erkrankte Menschen dieses Wissen relevant: Liegt eine genetische Veränderung vor, kann dies Einfluss auf weitere Therapieentscheidungen haben.
Forschung für mehr Individualität
Aufgrund unterschiedlicher Varianten kann auch die Erkrankungswahrscheinlichkeit stark variieren, erklärt Prof. Kratz: „Es gibt Familien, die sind sehr früh schwer betroffen, und andere, da geht es mit der ersten Krebserkrankung erst im fortgeschrittenen Alter los.“
Derzeit beschäftigt sich sein Forschungsteam intensiv mit verschiedenen Veränderungen des Gens TP53, die nicht alle die gleichen Auswirkungen haben. Ziel ist es, anhand dieser Unterschiede künftig individuelle Prognosen zu ermöglichen und darauf abgestimmte Vorsorgestrategien zu entwickeln.
Zurzeit durchlaufen alle Betroffenen dieselben intensiven Vorsorgeuntersuchungen, obwohl nicht alle das gleiche Risiko tragen. Eine Anpassung an die persönliche Risikosituation wäre wünschenswert. Ferner arbeitet das Team an Strategien der Krebsprävention.
Lebensstil und Selbstverantwortung
Neben der medizinischen Vorsorge spielt auch der Lebensstil eine entscheidende Rolle: nicht rauchen, wenig Alkohol, hohe Strahlenbelastung wenn möglich vermeiden, sich gesund ernähren und regelmäßig bewegen – Maßnahmen, die grundsätzlich für alle Menschen empfohlen werden, für Menschen mit genetischen Varianten vermutlich jedoch von besonderer Bedeutung sind.
Faktenbox
Typisch für das Li-Fraumeni-Syndrom ist das Auftreten verschiedener Krebsarten in ungewöhnlich jungem Lebensalter. Die „Kern“-Tumore, das heißt, die am häufigsten auftretenden Krebserkrankungen, betreffen:
- Knochen,
- Muskeln und Bindegewebe,
- Nebenniere,
- Blut,
- Gehirn,
- Brust.
Aufgrund der Vielzahl an verschiedenen Tumoren, die mit dem LFS verknüpft sind, ist es im Einzelfall unmöglich, vorherzusagen, welcher Tumor auftritt.
Weitere häufige Krebsarten sind
- Hautkrebs,
- Lungenkrebs,
- Magendarmkrebs,
- Neuroblastome (Tumore der Nebenniere),
- Lymphome (Lymphdrüsenkrebs),
- Nierentumore,
- Schilddrüsenkrebs.
Bereits im ersten Lebensjahr entwickeln 4% der Kinder mit LFS einen Tumor.
Bis zum 5. Lebensjahr sind es fast ein Viertel aller Kinder (22%).
Bis zum 18. Lebensjahr haben über 40% der Kinder und Jugendlichen mit LFS bereits einen Tumor entwickelt.
Typische Tumore im Kindesalter sind
- Sarkome (Osteosarkome, Weichteilsarkome),
- ACC,
- Hirn-Tumore (Choroid-Plexus-Tumore, SHH-Medulloblastome),
- ALL (vor allem hypodiploid), AML, MDS,
- ALL-Rezidive.
Typische Tumore im Erwachsenenalter sind
- Brustkrebs, besonders junge Frauen,
- Weichteilsarkome.
(Quelle: Webseite der LFSA-Deutschland, abgerufen:14.08.25)
Kontakt, auch für Österreich
Li-Fraumeni Syndrom Association Deutschland
Claudia Sablowski: info@lifsa-deutschland.de
Prof. Dr. med. Christian Kratz, Medizinische Hochschule Hannover, Direktor der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie
Tipp: Prof. Kratz betreibt ein Online-Portal für Krebsprädispositionssyndrome (KPS) für Betroffene und Fachpersonal: http://www.krebs-praedisposition.de/