9. Mai 2025Ein Lagebericht aus der Kinderarztpraxis

Mehr Infekte bringen das System an seine Grenzen

In meinem Praxisalltag beobachte ich, wie sehr virale Infekte in den letzten Jahren zugenommen haben – nicht nur in Zahl, sondern auch in Dauer und Schwere. Überfordert ist nicht nur das Immunsystem meiner Patientinnen und Patienten, sondern auch das Gesundheitssystem selbst. Mein Plädoyer für strukturelle Reformen, mehr Aufklärung und interdisziplinarische Zusammenarbeit.

Dr. George Zabaneh
Foto: Privat

Dr. George Zabaneh

In den vergangenen Jahren häufen sich in meiner Ordination nicht nur in den Wintermonaten Beobachtungen, die über das gewohnte saisonale Infektionsgeschehen hinausgehen. Was viele Eltern, Patientinnen und Patienten subjektiv ebenfalls wahrnehmen, bestätigt sich für mich auch auf ärztlicher Seite:

eine deutliche Zunahme viraler Infekte, längere und schwerere Krankheitsverläufe, höhere Krankenstände – und ein Gesundheitssystem, das an seine Grenzen stößt.

Wochenlanger Leidensweg Infekt

Was früher als „verkühlt“ oder „grippaler Infekt“ durchging, endet heute oft als wochenlanger Leidensweg, bei dem sich die Infekte quasi aneinanderreihen. Atemwegserreger wie RSV, Influenza, Corona, atypische Pneumonien – sie alle greifen mit zuvor ungekannter Wucht um sich.

Diese Situation ist dabei nicht mehr nur medizinisch relevant, sondern hat längst wirtschaftliche und gesellschaftliche Dimensionen erreicht:

  • Eltern, die für die Pflege kranker Kinder ausfallen,
  • Arbeitnehmer, die ihre Urlaubstage zur Betreuung verwenden müssen,
  • Unternehmen, die wegen hoher Krankenstände wirtschaftlich unter Druck geraten.

Veränderte immunologische Landschaft?

Ein zentraler Punkt ist für mich, dass die immunologische Situation in der Bevölkerung eine andere zu sein scheint als vor dem Auftreten der Omikron-Variante von Covid-19. Aus zahlreichen Studien kristallisiert sich mittlerweile heraus, dass es sich bei dem Virus um eine „Fluchtvariante“ handelt, die sich teils erfolgreich über längere Zeit dem Immunsystem widersetzt und seine Ressourcen damit auch länger bindet.

Infolgedessen ist unsere Abwehr dann auch weniger in der Lage, effektiv auf andere Keime zu reagieren. Das erklärt unter anderem die Häufung von früher „ungewöhnlichen“ Infektionen wie die Mykoplasmen-Pneumonie oder die Zunahme von Pertussis-Fällen.

Eine Rückkehr zur „Normalität“ vor der Pandemie ist für mich immunologisch betrachtet eine Illusion. Diese Realität sollten wir jetzt anerkennen und Maßnahmen entwickeln, um der neuen Lage gerecht zu werden.

Es braucht Änderungen in Medizin und Wirtschaft

Die Konsequenzen dieser Situation reichen weit über das Wartezimmer hinaus. Wollen wir sie für die kommenden Jahre verbessern, brauchen wir eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Gesundheitsexperten, Wirtschaftstreibenden, Politikern und Sozialwissenschaftlern. Lösungen sollten dabei nicht nur der medizinischen, sondern auch der sozialen und wirtschaftlichen Dimension dieser Entwicklung Rechnung tragen.

Sinnvolle Maßnahmen wären etwa

  • die Förderung hygienischer Luftsysteme an den Arbeitsplätzen,
  • der Ausbau flexibler Homeoffice-Optionen bei Erkrankungen in der Familie,
  • der Ausbau von Betreuungseinrichtungen, um gesunde Kinder vor Ansteckung zu schützen und große Gruppenzahlen zu vermeiden, bei denen Infektionen vorprogrammiert sind,
  • die Ausweitung pädiatrischer und psychologischer Versorgung.

Außerdem braucht es eine gesellschaftliche Neubewertung von Krankheit und Arbeitsverhalten: Wer krank ist, gehört nicht ins Büro. Ein höheres Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft führt dann zwar vordergründig zu mehr Krankenständen, verhindert letztlich aber die weitere Verbreitung von Krankheitserregern. Auch die Arbeitgeber sind hier gefragt. Sie müssen Rahmenbedingungen schaffen, die dieses gesunde Verhalten unterstützen.

Krankheitstreiber Impfskepsis

Als beunruhigend empfinde ich außerdem den zunehmenden Vertrauensverlust in die naturwissenschaftliche Medizin. Studien zeigen etwa, dass ein erheblicher Anteil junger Menschen unter 35 Jahren den Empfehlungen der evidenzbasierten Medizin nicht mehr folgt. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung, denn gerade die Generation, die unsere Gesellschaft künftig tragen soll, entfernt sich immer weiter vom System evidenzbasierter Gesundheitsversorgung.

Die Auswirkungen davon sehen wir bereits. So steigen weltweit die Masernfälle; auch andere impfpräventable Erkrankungen werden wieder auftreten. Auch hier muss dringend gegengesteuert werden – etwa mit besserer Aufklärung, gezielter Kommunikation und nicht zuletzt durch die Stärkung gerade jener ärztlichen Strukturen, die sich noch Zeit nehmen können. So sehe ich meine Rolle als Wahlarzt auch in der Systemerhaltung, weil ich noch individuelle Impfberatung und medizinische Aufklärung leisten kann – ein Bereich, der im überlasteten Kassensystem kaum noch Platz findet.

Auch wir Ärztinnen und Ärzte sind gefordert

Als Ärztinnen und Ärzte sehen wir die genannten Entwicklungen täglich in unseren Ordinationen. Es reicht nicht, nur zu behandeln. Wir müssen diese Probleme klar kommunizieren – auch gegenüber der Politik. Es ist Zeit, dass unsere Erfahrungen auch in strukturellen Veränderungen münden. Die Herausforderungen sind da – und die Mittel zu handeln ebenfalls. Wegschauen hilft nicht weiter.

Über den Autor

Dr. George Zabaneh ist Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde sowie Facharzt für Allgemein- und Familienmedizin mit eigener Wahlarztpraxis in der Seestadt Aspern, Wien 22.