5. Mai 2025Evidenzbasierte Therapie der Alkoholabhängigkeit

Wege aus der Suchtblase

Eine Entzugsbehandlung sollte nicht isoliert, sondern als erster Schritt einer langfristigen Therapie betrachtet werden.

Konzept Alkoholsucht.
Abbildung: Vector Juice/stock.adobe.com

Eine flexible und individuell angepasste Strategie – ob vollständige Abstinenz, Alkoholpause oder Reduktion – kann Patientinnen und Patienten helfen, einen Weg aus der Abhängigkeit zu finden und ihre Lebensqualität nachhaltig zu verbessern. Die Behandlungsempfehlungen orientieren sich am Schweregrad der Erkrankung.

„Es gibt keinen risikofreien Alkoholkonsum“, leitet Prof. Dr. Falk Kiefer von der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg und Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim seinen Vortrag bei der DGPPN-Jahrestagung ein. Die Alkoholabhängigkeit erfolgt schleichend und zieht bekanntlich gravierende gesundheitliche und soziale Probleme nach sich.

Auch die direkten und indirekten volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums sind enorm und belaufen sich in Deutschland auf etwa 55 Milliarden Euro pro Jahr. Nur etwa 10% der Betroffenen erhalten allerdings eine angemessene Therapie. Darüber hinaus sind sich viele Betroffene ihrer Abhängigkeit nicht bewusst, da sie ihren Konsum mit dem ihrer Umgebung vergleichen. „In einer Hochkonsumgesellschaft kann exzessives Trinken als normal wahrgenommen werden.“

Gesundheitliche Folgen

Prof. Dr. Falk Kiefer
Foto: Peter v. Felbert

Prof. Dr. Falk Kiefer, Universitätsklinikum Heidelberg, ZI Mannheim.

Alkohol verursacht gesundheitliche Schäden „ab dem ersten Gramm Alkohol“, meint Prof. Kiefer. Bereits geringe Mengen erhöhen das Risiko für zahlreiche Erkrankungen, darunter Krebs, Leberzirrhose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das betrifft insbesonders die Leberzirrhose: Bei einem Konsum von einem halben Liter Wein pro Tag steigt das Risiko um das 7- bis 8-Fache, bei einem Liter um das 27-Fache.

Auch Krebserkrankungen wie Brustkrebs sind mit Alkoholkonsum assoziiert. Ein halber Liter Wein pro Tag verdoppelt das Risiko, ein Liter Wein pro Tag erhöht es um das Dreifache.

Suchtentwicklung und neurobiologische Mechanismen

Ein zentraler Aspekt der Suchtentwicklung ist die konditionierte Verstärkung durch das dopaminerge Belohnungssystem. Alkoholkonsum hinterlässt im Gehirn Spuren: Orte, Menschen und Situationen, in denen getrunken wurde, werden mit positiven Empfindungen verknüpft. Dies führt zu einer selektiven Wahrnehmung: Trinksituationen rücken in den Fokus, während andere Umweltreize an Bedeutung verlieren. Diese „gefilterte Suchtblase“ erschwert die Kontrolle über den eigenen Konsum erheblich. Die selektive Wahrnehmung und das Craving verstärken sich mit jeder weiteren Alkoholexposition. Prof. Kiefer betont in diesem Zusammenhang, dass es keine feste Schwelle für die Entwicklung einer Abhängigkeit gibt. Jede Einnahme eines Suchtmittels steigert die Präferenz für die Konsumsituation.

Stationäre vs. ambulante Entzugsbehandlung

Die Entscheidung für eine stationäre oder ambulante Entzugsbehandlung hängt von mehreren Faktoren ab:

  • Schweregrad der Entzugssymptome: Delirien oder Krampfanfälle erfordern stationäre Behandlung.
  • Psychosoziales Umfeld: Ein trinkendes Umfeld erschwert die Abstinenz erheblich.
  • Gesundheitszustand: Komorbide Erkrankungen können eine stationäre Betreuung erforderlich machen.

Ein abruptes Absetzen des Suchtmittels ohne medizinische Überwachung kann schwerwiegende Entzugskomplikationen wie Delirium tremens oder epileptische Anfälle auslösen. In solchen Fällen ist eine schrittweise Reduktion des Alkoholkonsums sicherer.

Qualifizierte Entzugsbehandlung

Eine qualifizierte Entzugsbehandlung ist mehr als der reine körperliche Entzug, betont der Referent. Sie umfasst:

  • Motivationsarbeit zur langfristigen Abstinenz
  • Psychotherapeutische Interventionen zur Verhaltensänderung
  • Pharmakologische Unterstützung, falls indiziert

Der Toleranzabbau allein führt nicht zur Veränderung der Präferenz für Alkoholkonsum. Viele Patientinnen und Patienten werden ohne Anschlussbehandlung rückfällig, warnt Prof. Kiefer. Eine nachhaltige Therapie setzt daher auf weiterführende Maßnahmen wie kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung.

Benzodiazepine: Anwendung und Alternativen

Benzodiazepine sind weltweit die am häufigsten eingesetzten Medikamente zur Behandlung des Alkoholentzugs. Diese Praxis hat sich seit vielen Jahre kaum verändert. Dabei stellt sich häufig die Frage, ob Benzodiazepine mit langer oder kurzer Halbwertszeit bevorzugt werden sollten – eine Entscheidung, die stark vom klinischen Setting abhängt, meint Prof. Kiefer.

Medikamente mit langer Halbwertszeit wie Diazepam haben den Vorteil, dass sie nicht kontinuierlich nachdosiert werden müssen. Das ist besonders in Situationen hilfreich, in denen eine engmaschige Überwachung schwierig ist, etwa im Nachtdienst, wenn keine sofortige Anpassung der Dosierung erfolgen kann. Der Nachteil ist jedoch, dass Patientinnen und Patienten nach Abklingen der akuten Entzugssymptome entlassen werden, während sich noch aktive Metaboliten im Körper befinden. Dies kann dazu führen, dass der eigentliche Entzug erst zu Hause einsetzt – eine Situation, die es zu vermeiden gilt.

In einem gut strukturierten Setting sind kurzwirksame Benzodiazepine wie Oxazepam meist vorzuziehen, da sie eine präzisere Steuerung der Medikation ermöglichen. Dasselbe Prinzip gilt für Chlomethiazol, das ebenfalls eine kurze Halbwertszeit hat und daher besonders sorgfältig dosiert werden muss. Sowohl Benzodiazepine als auch Chlomethiazol sind hochwirksam in der Linderung von Entzugssymptomen und der Erhöhung der Krampfschwelle. Bei adäquater Dosierung treten Krampfanfälle kaum auf. Falls ein Delirium tremens auftreten sollte, kann eine Ergänzung mit Antipsychotika erforderlich sein. Hier haben sich aufgrund ihrer schnellen Wirksamkeit insbesondere Butyrophenone wie Haloperidol bewährt.

Chlomethiazol ist für die ambulante Behandlung ungeeignet, aufgrund seines Abhängigkeitspotenzials und da eine zu häufige Nachdosierung erforderlich ist. Dies erhöht das Risiko für eine Überdosierung oder falsche Einnahme, insbesondere in Kombination mit Alkohol.

Pharmakotherapie des Substanzentzugs

  • Pharmakotherapie gleicht die Effekte der Rezeptoradaption (Toleranzentwicklung) nach chronischer Substanzeinnahme aus
  • Entzugsmedikamente besitzen ein ähnliches Rezeptorprofil wie die Substanz, die entzogen wird
  • Die Pharmakotherapie beinhaltet zwei Phasen:
    - Auftitration
    - Reduktion

Antikonvulsiva: überflüssig oder sinnvoll?

Antikonvulsiva werden oft standardmäßig in der Entzugsbehandlung eingesetzt – allerdings meist ohne klare Indikation. Benzodiazepine und Chlomethiazol bieten bereits eine ausreichende Erhöhung der Krampfschwelle, sodass zusätzliche Antikonvulsiva in den meisten Fällen überflüssig sind. Die meisten Krampfanfälle im Alkoholentzug treten in früheren Entzügen auf und sind nicht unabhängig davon zu betrachten. „Eine zusätzliche Gabe von Antikonvulsiva ist dann sinnvoll, wenn es Hinweise auf epileptische Anfälle außerhalb der Entzugssituation gibt“, rät der Referent.

Ein weiteres Problem ist die langfristige Verordnung von Antikonvulsiva: Da die Dosissteigerung oft zeitaufwendig ist und das höchste Krampfrisiko in den ersten 48 Stunden besteht, kann es vorkommen, dass eine wirksame Aufdosierung nicht rechtzeitig erreicht wird. Zudem besteht das Risiko einer Weiterverordnung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, sodass Patientinnen und Patienten über Jahre hinweg Antikonvulsiva erhalten, obwohl keine Indikation mehr besteht.

Baclofen, GHB und Alkohol selbst wurden ebenfalls als potenzielle Behandlungsmöglichkeiten des Alkoholentzugs diskutiert. Allerdings gibt es keine ausreichende Evidenz für deren Wirksamkeit und Sicherheit, weshalb sie explizit nicht empfohlen werden.

Leberfunktionsstörungen und medikamentöse Anpassung

Bei Patientinnen und Patienten mit Leberfunktionsstörungen sollten bevorzugt Substanzen mit kurzer Halbwertszeit und geringer hepatischer Metabolisierung eingesetzt werden. Dazu gehören Oxazepam und Lorazepam. Falls eine Antikonvulsiva-Therapie erforderlich ist, bieten sich Gabapentin oder Levetiracetam als Alternativen an.

Entzugsbehandlung als Einstieg in die Suchttherapie

Der körperliche Entzug allein ist keine Behandlung der Abhängigkeit, sondern der erste Schritt für die eigentliche Suchttherapie. Da viele Patientinnen und Patienten den Entzug als Anlass nehmen, um Hilfe zu suchen, ist dies eine große Chance die Betroffenen zu erreichen. Eine qualifizierte Entzugsbehandlung bietet die Möglichkeit, bereits in dieser Phase motivationale Interventionen durchzuführen, das Trinkverhalten zu hinterfragen und gemeinsam mit der Patientin bzw. dem Patienten Ziele zu erarbeiten. Dabei sollten die Fragen im Mittelpunkt stehen: „Warum möchte ich abstinent werden? Was kann ich dadurch erreichen?“

Qualifizierte vs. rein körperliche Entzugsbehandlung

Die qualifizierte Entzugsbehandlung führt nachweislich zu höheren Abstinenzraten als eine rein körperliche Entzugsbehandlung. Während Letztere kaum zu dauerhafter Abstinenz führt, gelingt es mit einer qualifizierten Behandlung, bei einem relevanten Anteil der Betroffenen eine langfristige Abstinenz zu erreichen. „Natürlich gibt es keine 100-prozentige Erfolgsquote, aber realistische Zahlen liegen bei 20–35% über ein Jahr hinweg“, so Prof. Kiefer. Da Alkoholabhängigkeit eine chronische Erkrankung ist, wäre es illusorisch zu erwarten, dass eine einmalige Behandlung zur dauerhaften Abstinenz führt. „Rückfälle gehören zum Krankheitsbild, bedeuten aber nicht, dass die Therapie gescheitert ist. Eine Patientin bzw. ein Patient, der über das Jahr hinweg mehrere Monate abstinent bleibt, profitiert erheblich von der Behandlung.“

Wichtig ist, Betroffene zu ermutigen, sich nach einem Rückfall direkt wieder in Behandlung zu begeben, anstatt diesen als persönliches Versagen zu betrachten.

Dauer der qualifizierten Entzugsbehandlung

Die Leitlinien empfehlen eine Behandlungsdauer von 21 Tagen. Dies sei ein Kompromiss, da eine Behandlung immer so lange erfolgen sollte, wie es medizinisch notwendig ist. Je nach individueller Situation kann eine längere Behandlung erforderlich sein, insbesondere bei körperlichen Folgestörungen oder protrahiertem Entzug.

Ziel der Entzugsbehandlung ist es, Betroffene in die Abstinenz zu führen. Allerdings sei diese kein Selbstzweck, sondern diene der Reduktion von Morbidität und Mortalität sowie der Verbesserung der Lebensqualität. Viele Menschen kommen nicht mit dem primären Wunsch nach Abstinenz in die Sprechstunde, sondern mit dem Ziel, wieder mit ihrer Familie zu interagieren, arbeitsfähig zu werden oder sich selbst besser wahrnehmen zu können. Die Abstinenz ist der beste Weg, um diese Ziele zu erreichen.

Trinkmengenreduktion

„Nicht alle Patientinnen und Patienten sind sofort bereit oder in der Lage, vollständige Abstinenz anzustreben. Für diese Gruppe kann eine Reduktion des Alkoholkonsums ein adäquates, intermediäres oder sogar langfristiges Therapieziel sein“, empfiehlt Prof. Kiefer. Studien zeigen, dass auch eine Konsumreduktion die Morbidität und Mortalität senken kann.

Ein flexibler Ansatz ist hier entscheidend: Patientinnen und Patienten, die zunächst mit einem Reduktionsziel in die Behandlung kommen, wechseln häufig innerhalb weniger Wochen zum Abstinenz-Ziel, wenn sie durch die Behandlung motiviert werden. „Würde man diese Patienten nicht behandeln, gäbe es für sie gar keine Möglichkeit, das Abstinenzziel für sich zu entdecken.“

Psychotherapie

Evidenzbasierte psychotherapeutische Verfahren zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit umfassen:

  • Kognitive Verhaltenstherapie
  • Kontingenzmanagement
  • Angehörigenarbeit/Paartherapie
  • Psychodynamische Kurzzeittherapie
  • Kognitive Bias Modification

Diese Methoden helfen, bewusste Verhaltenskontrolle zu fördern und Automatismen zu durchbrechen, die zu Rückfällen führen können.