19. Feb. 2025VIVIT-Studie | Im Gespräch mit Prof. Heinz Drexel

Koronare Herzkrankheit: unabhängiger Risikofaktor Restcholesterin

Trotz intensiver LDL-Cholesterin-Senkung ist das kardiovaskuläre Risiko vieler Menschen mit koronarer Herzkrankheit (KHK) teils hoch.

Take Home Messages

  • Die Gesamtmortalität betrug 52,2 %, die kardiovaskuläre Mortalität 20,6 % und die MACE-Rate 39,1 % über den gesamten Beobachtungszeitraum.
  • Ein erhöhter RC-Wert war signifikant mit einem höheren Risiko für Gesamtmortalität, kardiovaskuläre Mortalität und MACE verbunden.
  • Diese Assoziationen waren unabhängig von klassischen Risikofaktoren wie LDL-C und HDL-C.
  • Der Einfluss von RC war sowohl bei Männern als auch bei Frauen ähnlich ausgeprägt.
  • Eine Statintherapie hatte keinen erkennbaren Einfluss auf die prognostische Bedeutung von RC.
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Abbildung: MILKY_PS/AdobeStock

Eine Langzeitstudie aus Vorarlberg zeigt, dass das Remnant-Cholesterin (RC) ein eigenständiger Risikofaktor für die Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität sowie für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse (MACE) ist. Interessanterweise bleibt dieser Zusammenhang unabhängig von klassischen Risikofaktoren wie LDL-C, HDL-C, Hypertonie und Diabetes mellitus bestehen.

Die kardiovaskuläre Medizin konzentriert sich seit Jahrzehnten auf die Senkung des LDL-Cholesterins (LDL-C), um das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren. Dennoch ist die Mortalität oft hoch, selbst wenn LDL-C erfolgreich gesenkt wurde. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass das Remnant-Cholesterin (RC), das den Cholesterinanteil in triglyceridreichen Lipoproteinen widerspiegelt, ein eigenständiger Risikofaktor für Atherosklerose und kardiovaskuläre Mortalität ist.

In eine prospektive Studie des Vorarlberg Institute for Vascular Investigation and Treatment (VIVIT) wurde nun der Einfluss von RC auf die Langzeitmortalität und das Risiko schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse bei Personen mit koronarer Herzkrankheit (KHK) untersucht. Diese Studie umfasste nicht nur große Fallzahlen, sondern wurde auch über einen langen Zeitraum durchgeführt.

Studiendesign

In die Untersuchung schlossen die Forschenden 1.474 Personen mit angiografisch gesicherter KHK ein. Die Teilnehmenden wurden über einen durchschnittlichen Zeitraum von 11,6 Jahren beobachtet. Die RC-Werte hat man aus nüchternen, nicht gefrorenen Blutproben bestimmt, um eine möglichst präzise Messung zu gewährleisten. Während der Nachbeobachtung wurden drei primäre Endpunkte erfasst:

  • die Gesamtmortalität,
  • die kardiovaskuläre Mortalität sowie
  • das Auftreten schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse (MACE), zu denen Myokardinfarkte und Schlaganfälle zählen.

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Gesamtmortalität innerhalb des Beobachtungszeitraums 52,2% (n = 769) betrug. Die die kardiovaskuläre Mortalität lag bei 20,6% (n = 303). Zudem erlitten 39,1% (n = 576) der Teilnehmenden mindestens ein schwerwiegendes kardiovaskuläres Ereignis. Dabei konnte ein klarer Zusammenhang mit RC festgestellt werden.

Die Analyse ergab, dass ein höheres RC signifikant mit einem erhöhten Risiko assoziiert war

  • für Gesamtmortalität (HR 1,12 [1,03–1,23], p = 0,009),
  • für kardiovaskuläre Mortalität (HR 1,20 [1,06–1,36], p = 0,005) und für
  • MACE (HR 1,10 [1,01–1,21], p = 0,033).

RC unabhängig von anderen Risikofaktoren

Die Autorinnen und Autoren fanden zudem heraus, dass diese Assoziationen unabhängig von klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren wie LDL-C, HDL-C, Hypertonie und Diabetes mellitus Typ 2 bestanden. Der Effekt war zudem sowohl bei Männern als auch bei Frauen in ähnlicher Weise vorhanden.

Bemerkenswert ist auch, dass die Einnahme von Statinen keinen signifikanten Einfluss auf die Prognose bzgl. RC hatte, was darauf hindeutet, dass RC eine eigenständige Größe im Risikomanagement darstellt und nicht durch eine LDL-C-Senkung beeinflusst wird.

Warum ist RC klinisch relevant?

RC ist demnach ein prognostischer Marker für das verbleibende kardiovaskuläre Risiko, das über LDL-C hinausgeht, das derzeit das Hauptziel einer Lipidtherapie ist. RC spielt allerdings ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Atherogenese, indem es direkt an der Entwicklung atherosklerotischer Plaques beteiligt ist.

Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren bedeutet dies für die klinische Praxis, dass RC als ergänzender Risikomarker neben LDL-C genutzt werden könnte. So könnte man Betroffene mit besonders hohem kardiovaskulärem Risiko besser identifizieren. Besonders in Fällen, in denen das LDL-C bereits optimiert wurde, kann eine RC-Bestimmung wertvolle Hinweise liefern.

Vergleich zwischen RC und LDL-C als Risikomarker

Ein zentraler Aspekt der Studie war der Vergleich zwischen RC und LDL-C hinsichtlich ihrer prognostischen Aussagekraft. In dieser speziellen Kohorte konnte RC das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Mortalität genauer vorherzusagen als LDL-C. „Bei Anwendung geeigneter präanalytischer und analytischer Methoden stellt die RC einen zuverlässigen Indikator für das Restrisiko dar“, schreiben die Forschenden.

Derzeit stehen keine spezifischen Medikamente zur gezielten Senkung von RC zur Verfügung. Jedoch gibt es verschiedene therapeutische Strategien, die möglicherweise zur Reduktion beitragen können. Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Optimierung des Lebensstils, insbesondere durch Gewichtsreduktion, gesunde Ernährung und regelmäßige körperliche Aktivität.

Interview Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Drexel

„Wir stehen mit der RC-Forschung noch am Anfang“

Portrait Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Drexel.
Foto: LKH Feldkirch

Prof. Heinz Drexel ist Gründer und Geschäftsführer des „Vorarlberg Institute for Vascular Investigation and Treatment“ (VIVIT). Das VIVIT betreibt angewandte Forschung am Schwerpunktkrankenhaus Feldkirch und Grundlagenforschung in einem institutseigenen Labor in Dornbirn. Das Forschungsteam analysiert seit über 25 Jahren große Personengruppen zur Einschätzung des Herz-Kreislauf-Risikos der Vorarlberger Bevölkerung.

Allein im Jahr 2024 wurden 24 wissenschaftliche Studien publiziert.

medonline: Herr Professor Drexel, konnte die vorliegende Studie Subgruppen identifizieren, beispielsweise Alter oder Komorbiditäten, in denen RC eine besonders starke oder schwache Assoziation mit kardiovaskulären Ereignissen aufwies?

Prof. Drexel: Wie wir in der vorliegenden Studie gezeigt haben, hat das Geschlecht keinen Einfluss. Aktuell führen wir eine Studie zu RC bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes durch, hier müssen wir jedoch noch die finalen Ergebnisse abwarten.

Lässt sich aus der Studie ein RC-Grenzwert ableiten, ab dem das Risiko für Mortalität und kardiovaskuläre Ereignisse signifikant steigt?

Nein, für die Festlegung eines klinisch relevanten Grenzwertes werden weitere Studien benötigt.

Wieso scheint RC ein besserer Prädiktor für kardiovaskuläre Mortalität zu sein als LDL-C, und welche Mechanismen könnten dies erklären?

LDL-C ist für die Risikovorhersage in unserer Kohorte nicht gut geeignet, da es durch viele Faktoren beeinflusst wird, wie zum Beispiel die Statin-Therapie, das Alter und Komorbiditäten. Wir konnten beispielsweise in einer Studie aus dem Jahr 2021 (Leiherer et al., Value of total cholesterol readings earlier versus later in life to predict cardiovascular risk) zeigen, dass Cholesterin-Werte von jüngeren Personen für die kardiovaskuläre Risikovorhersage relevanter sind als später im Leben gemessene. RC scheint diesen Limitationen weniger ausgesetzt zu sein. Keinesfalls darf hieraus jedoch geschlossen werden, dass die LDL-C-Senkung durch Statine keinen Nutzen hätte.

Die Studie zeigt, dass Statine keinen Einfluss auf die prognostische Bedeutung von RC hatten. Gibt es Hinweise darauf, dass andere Lipidsenker RC beeinflussen könnten?

Hierzu sind noch kaum Daten verfügbar. Mögliche Herangehensweisen zielen vor allem auf die Senkung triglyceridreicher Lipoproteine ab. Hier könnten vor allem Lebensstilinterventionen, Omega-3-Fettsäuren, Fibrate und C-III-Inhibitoren eine Rolle spielen (siehe auch: Drexel et al. 2023, Triglycerides revisited: is hypertriglyceridaemia a necessary therapeutic target in cardiovascular disease?)

Sollte RC bereits jetzt in die kardiovaskuläre Risikostratifizierung aufgenommen werden, oder bedarf es weiterer Studien?

Wir stehen mit der RC-Forschung noch am Anfang. Weitere Studien werden benötigt, um den Einfluss verschiedenster Faktoren auf RC in verschiedenen Populationen zu untersuchen, Grenzwerte festzulegen und mögliche Therapieansätze zu erforschen. Durch die einfache Messung und Interpretation hat RC jedoch großes Potenzial, in Zukunft Eingang in die klinische Routine zu finden.

Vielen Dank für das Gespräch!