4. Dez. 2024Die Gesichter Seltener Erkrankungen – Teil 32

Nemalin-Myopathie: „Sagen Sie bitte nicht, das geht nicht!“

Aufgrund ihrer angeborenen Muskelerkrankung, der Nemalin-Myopathie 10, gaben die behandelnden Ärztinnen und Ärzte den Eltern von Anna Eberl (25) die schlechteste aller Prognosen. Heute studiert die junge Frau Mathematik und lernte sogar schwimmen. Ihren Alltag bewältigt sie mit persönlicher Assistenz.

Anna Eberl beim Schwimmen.
Foto: Privat
Trotz ihrer angeborenen Muskelerkrankung lernte Anna Eberl schwimmen.

Kurz nach der Geburt sagten die damals behandelnden Ärztinnen und Ärzte den Eltern von Anna Eberl, dass ihre neugeborene Tochter sterben werde. Annas Mutter setzte jedoch durch, dass sie ihr Kind mit nach Hause nehmen konnte. Das kleine Mädchen wurde mit einer Nasensonde ernährt, weil man davon ausging, dass es aufgrund seiner angeborenen Muskelerkrankung nicht essen könne. „Als ich etwa zwei Jahre alt war, haben meine Eltern durch Zufall herausgefunden, dass ich sehr wohl selbstständig essen kann“, erzählt Anna im Gespräch mit medonline.at.

Diagnose Nemalin-Myopathie 10

Sie ist mittlerweile das älteste von fünf Geschwistern, die anderen vier haben keine angeborene Muskelerkrankung. Die genaue Diagnose „Nemalin-Myopathie 10“ – sie gehört zur Gruppe der Kongenitalen Myopathien – wurde bei Anna allerdings erst 2017 gestellt, also im Alter von 18 Jahren.

Anna beim Wandern.
Foto: Privat

Anna Eberl beim Wandern.

Gesucht: Kreativer Lungenspezialist

Bereits 2013 kam sie von Oberösterreich nach Wien und absolvierte hier die HTL im Zweig Informationstechnologie – Netzwerktechnik, die sie mit der Matura abschloss. Die medizinische Betreuung erfolgte zunächst an der Klinik Favoriten. Aktuell wird sie an der Spezialambulanz Neuromuskuläre Erkrankungen der Klinik Donaustadt regelmäßig betreut. „Neurologisch fühle ich mich dort sehr gut aufgehoben, pulmologisch würde ich noch einen kreativen Lungenspezialisten brauchen“, sagt Anna Eberl, die sich mittlerweile selbst sehr gut mit ihrem Krankheitsbild auskennt.

Charakteristisch für die Nemalin-Myopathien ist unter anderem der offenstehende Mund, sodass es bislang heißt, eine Spirometrie sei bei ihr nicht möglich. Da jedoch bei Anna, wie bei vielen Patientinnen und Patienten, die Lunge mit betroffen ist, wäre die pulmologische Untersuchung und Expertise sehr wichtig.

Außerdem gilt es zu beachten, dass ein erhöhtes Narkoserisiko im Sinne einer malignen Hyperthermie besteht. Das Narkoserisiko kann durch zusätzliche Voruntersuchungen und die gezielte Auswahl der Narkotika (triggerfreie Anästhesie) weitgehend vermieden werden. Succinycholin und Inhalationsanästhetika sollten bei ihrem Krankheitsbild nicht eingesetzt werden, was auch im Muskelpass der österreichischen Muskelforschung festgehalten ist.

Symptomatische Behandlung

Da es für die Erkrankung bislang keine ursächliche Therapie gibt, wird Anna symptomatisch behandelt. „Zurzeit nehme ich regelmäßig einen Saft mit dem Wirkstoff Salbutamol. Eine Studie zeigte, dass dieser die Atmung verbessert und zu mehr Kraft verhilft. Außerdem nehme ich L-Tyrosin, dass ebenfalls die Muskulatur unterstützt. Ich habe das Gefühl, dass mir beides gut hilft.“ Zusätzlich erhält sie regelmäßig Physiotherapie.

Im Alltag bekommt sie Unterstützung durch eine persönliche Assistenz. „Das ist eine große Hilfe, allerdings dauert es immer einige Zeit, passende Assistenten oder Assistentinnen zu finden“, sagt Anna.

Worüber sich die junge Frau mitunter ärgert, sind Aussagen wie „Das geht nicht“, denn für sie ist vieles möglich – „aber vielleicht nicht so, wie andere es sich vorstellen“. Mit ihr zu sprechen beispielsweise ist möglich, wenn ihr Gegenüber aufmerksam zuhört. Auf unsere Frage, was sie gerne noch der Öffentlichkeit über sich erzählen möchte, sagt Anna: „Ich habe mit 18 Jahren schwimmen gelernt, das hat mir davor wohl niemand zugemutet.“ Nach wir vor bereitet es ihr große Freude.

Unterstützung durch Selbsthilfegruppen

Zudem steht sie in Austausch mit Mitgliedern der Selbsthilfegruppe „Verein Marathon“, zu der vor allem Eltern von Kindern mit Muskelerkrankungen gehören. Auch über die Österreichische Muskelforschung oder die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke DGM konnte Anna bereits Kontakte zu anderen Patientinnen und Patienten knüpfen, ebenso ist sie via Facebook mit der US-amerikanischen „Nemaline and Congenital Myopathy Community“ vernetzt. Die Websites der Selbsthilfe-Organisationen liefern übrigens neben grundlegenden Informationen zu Muskelerkrankungen auch Praxistipps für den Alltag oder Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten.

Fakten-Check: Nemalin-Myopathie

Die Nemalin-Myopathie (NM) gehört zur Gruppe der kongenitalen Strukturmyopathien, die durch morphologische Strukturauffälligkeiten in der Muskelfaser gekennzeichnet sind. Man unterscheidet verschiedene Formen von NM, basierend auf Erkrankungsbeginn, Verteilung und Schweregrad der Muskelschwäche und respiratorischer Beteiligung. Bisher wurden Mutationen in zwölf verschiedenen Genen1 identifiziert, die fast alle für Bestandteile der dünnen Sarkomerfilamente kodieren. Je nach zugrundeliegendem Gen und Mutation kann die NM einem autosomal dominanten oder einem autosomal rezessiven Erbgang folgen. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen tritt die Erkrankung sporadisch auf, also ohne positive Familienanamnese.

Nachweisen lassen sich die Strukturauffälligkeiten histologisch bzw. teilweise nur elektronenmikroskopisch in der Muskelbiopsie. Typischerweise sind in den Präparaten stäbchen- und fadenförmige Strukturen („nemaline bodies“) zu erkennen, diese sind Ablagerungen von Proteinen des Sarkomers. Die Schwere der Erkrankung korreliert jedoch nicht mit der Anzahl und Größe der Ablagerungen.

Klinisch und molekulargenetisch ist die Nemalin-Myopathie eine heterogene Erkrankung. Sie kann sich in unterschiedlichen Phänotypen meist des Kindes- und seltener des Erwachsenenalters manifestieren.

Bei der kongenitalen Form der Nemalin-Myopathie zeigt sich unter anderem das Floppy-Infant-Syndrom, häufig verbunden mit respiratorischer Insuffizienz, Saugschwäche und Schluckstörungen. Auffällig sind die schmale hypomimische Fazies und der zeltförmig offenstehende Mund. Die motorische Entwicklung verläuft verzögert, die kognitive Entwicklung jedoch meist normal. Kreatinkinase (CK) im Serum ist bei allen Formen der Nemalin-Myopathie oft normal oder nur leicht erhöht.

1 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34561123/

Quelle und weiterführende Informationen: Medizinisch Genetisches Zentrum München, https://www.mgz-muenchen.de/erkrankungen/diagnose/nemaline-myopathie.html