20. Nov. 2024Die Gesichter Seltener Erkrankungen – Teil 31

Matus und das Myhre-Syndrom – „Gibt es vielleicht noch andere betroffene Kinder?“

Soweit bekannt, ist der zwölfjährige Matus der bislang einzige Patient in Österreich, bei dem das Myhre-Syndrom diagnostiziert wurde. Erst im Alter von zehn Jahren wurde damit die Ursache für seine Symptome gefunden.

Matus Toth
Foto: Privat
Matus Toth

Gemeinsam mit seinem „Creeper“ aus Stoff lächelt Matus neben seiner Mama Maria Toth beim Zoom-Gespräch in die Kamera. Er hat gerade Herbstferien, am Nachmittag geht er zur Ergotherapie. Der Schulbesuch wird Matus mit Hilfe einer Schulassistentin und eines Stützlehrers ermöglicht.

Lange wussten weder die Familie noch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, warum Matus’ Entwicklung besonders verläuft, selbst wenn er auf den ersten Blick gesund wirkt. Doch Matus benötigt ein Hörgerät, außerdem hat er orthopädische Probleme und Auffälligkeiten an Herz und Lunge, ADHS wurde kürzlich diagnostiziert. „Dank der kinderpsychiatrischen Behandlung ist er jetzt jedoch gut eingestellt und kann sich im Unterricht besser integrieren“, betont Maria Toth. Dennoch kann Matus nur eine begrenzte Zeit lang ruhig sitzen und Lärm nur schwer tolerieren.

Weltweit 200 Menschen mit Myhre-Syndrom

Mit der Diagnose am Zentrum für Medizinische Genetik der Medizinischen Universität Innsbruck bekam die Krankheit von Matus einen Namen: Myhre-Syndrom. Allerdings ist er damit der bislang einzige bekannte Patient in Österreich und einer von rund 200 weltweit.

Maria Toth wendet sich mit der Geschichte ihres Sohnes an die Öffentlichkeit, um anderen Familien Mut zu machen, die vielleicht auch Kinder mit Auffälligkeiten haben, wo die Ursache bislang unbekannt ist. Vor der Diagnose hieß es bei Matus oft, er sei „langsam in der Entwicklung“. Maria Toth hat mittlerweile Kontakt zu einer weiteren Familie mit einem an Myhre-Syndrom erkrankten Kind in Deutschland geknüpft, wünscht sich aber auch selbst, noch mehr über die Erkrankung zu erfahren.

Betreuung im Teamwork

Mit verschiedenen Therapien hat Matus jedoch schon vor der Diagnose begonnen: So lernte er mit Hilfe der Logotherapie sprechen, er bekam Frühförderung und wird von einer Heilpädagogin betreut, Physio- und Ergotherapie gehören ebenso zum Therapieprogramm. Ärztlicherseits wird er sowohl vom Kinderarzt in der Nähe als auch von Spezialisten der Innsbrucker Universitätsklinik für Pädiatrie betreut, koordiniert von der Neuropädiaterin Dr. Sara Baumgartner-Sigl.

Dr. Sara Baumgartner-Sigl
Foto: Privat

Dr. Sara Baumgartner-Sigl

„Matus hat unter anderem Probleme mit der Herzklappe, er kann jedoch nicht operiert werden, da die Erkrankung das Bindegewebe betrifft und somit Auswirkungen auf die Narbenbildung hat“, weiß Maria Toth. Sie ist jedenfalls froh, durch „die wirklich guten Ärztinnen und Ärzte in Innsbruck betreut zu werden“, gibt aber zu, dass die vielen Arzt- und Therapietermine mitunter eine enorme Herausforderung bedeuten, da von ihrer Heimat im Tiroler Kaunertal mitunter lange Anfahrten zu bewältigen sind.

Familienalltag

Um ihren Sohn bestmöglich zu unterstützen und den Familienalltag gemeinsam mit seinem fünfjährigen Bruder Tobias zu managen, haben die Eltern ihre berufliche Tätigkeit aufeinander abgestimmt. Die gelernte Köchin Maria arbeitet im nahen Hotel im Zimmerservice, Vater Roland in der Küche. Somit geht sich meistens mit Schule und Kinderbetreuung alles gut aus, an schulfreien Tagen darf Matus seine Mama dank des Entgegenkommens ihrer Vorgesetzten mitunter zur Arbeit begleiten. „Da mache ich dann Späße“, sagt Matus über diese Tage.

Matus mit seiner Familie.
Foto: Privat

Matus mit seiner Familie.

„Es ist einfach wichtig zu wissen, wie man mit Matus umgeht, da er oft die Folgen seiner Handlungen nicht gut abschätzen kann. „Das Beste ist, ihn so zu lassen, wie er ist.“ Manchmal müssen die Eltern die beiden Brüder jedoch sanft trennen, wenn Matus mal zu grob mit seinem Bruder wird.

Matus in seiner Entwicklung begleiten

Als Neuropädiaterin kennt Dr. Sara Baumgartner-Sigl Matus nunmehr seit seinem neunten Lebensjahr. Zugewiesen wurde er mit der Frage nach Vorliegen einer „Autismus-Spektrum-Störung“. „Neben seiner Hörbeeinträchtigung war er sprachlich und motorisch nicht altersgemäß entwickelt.“ Da sich bei näherer Untersuchung der erste Verdacht nicht bestätigte, wurde Matus einem interdisziplinären Fachboard vorgestellt. „Unsere Kolleginnen und Kollegen von der Humangenetik haben dabei den Verdacht auf das ,Myhre-Syndrom‘ gehabt und es auch gefunden“, berichtet Dr. Baumgartner-Sigl.

Daniela Karall
Foto: studio12

Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, IBCLC

Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, IBCLC, vom Bereich Angeborene Stoffwechselstörungen am Department für Kinder- und Jugendheilkunde ergänzt: „Gerade bei extrem seltenen Erkrankungen wie dem Myhre-Syndrom gewinnen wir mit der genetischen Diagnostik ein besseres Verständnis für die Krankheit. Es macht auch Sinn, im Falle eines nicht konklusiven Ergebnisses die Daten der genetischen Untersuchung alle zwei bis drei Jahre wieder zu sichten, da sich die Methoden laufend verfeinern und immer neue Erkenntnisse generiert werden.“

Ärztinnen und Ärzten und auch Eltern von Kindern mit Multisystemerkrankungen und bislang unbekannter Ursache rät Karall jedenfalls „hartnäckig zu bleiben und weiter zu suchen“, auch eine etwaige humangenetische Beratung mache Sinn.

So wie Matus werden aktuell rund 15 Kinder mit Seltenen Erkrankungen von Baumgartner-Sigl als „fallführende Ärztin“ an der Klinik für Kinder und Jugendliche begleitet. Bei Matus gelte aus der Sicht der Neuropädiatrie, ihn in seiner Entwicklung in den Bereichen Sprache, Motorik und sozial-emotionale Fertigkeiten zu begleiten.

Im Rahmen der Verlaufsuntersuchungen werden in Zusammenarbeit mit Neuropsychologinnen und -psychologen standardisierte Tests eingesetzt, um Stärken und Schwächen zu identifizieren. Bei emotionalen und Verhaltensschwierigkeiten werden Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater mit einbezogen.

Die Neuropädiaterin koordiniert auch notwendige weiterführende Untersuchungen, „üblicherweise sind einmal jährliche Routineuntersuchungen sinnvoll, sofern Familien dazu eine weite Anreise haben“. Ziel ist es, mit adäquaten Fördertherapien die Entwicklung des Kindes optimal zu unterstützen.

Fakten-Check Myhre-Syndrom

Das Myhre-Syndrom wird durch eine heterozygote pathogene Variante im SMAD4-Gen (18q21.2) verursacht. Charakteristische klinische Merkmale und radiologische Befunde sind etwa Brachydaktylie, Wirbelfusionen und hypoplastische Darmbeinflügel.

In den ersten Lebensjahren sind die Hauptmerkmale Kleinwuchs sowie kurze Lidspalten. In der späten Kindheit sind ausgeprägte Gesichtszüge erkennbar, ebenso eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit oder verdickte Haut.

Morphologische kardiovaskuläre Anomalien betreffen etwa 70 Prozent der Patienten, häufig werden Perikarditis, restriktive Kardiomyopathie sowie systemische und pulmonale Hypertonie beobachtet. Die Atemwege sind unter anderem durch eine obstruktive Atemwegserkrankung oder eine restriktive Lungenerkrankung betroffen. Häufig wird über rezidivierende Infektionen, insbesondere Otitis media und Lungenentzündung, berichtet. Bei den meisten Betroffenen wird eine Schwerhörigkeit beobachtet.

Die Behandlung erfolgt hauptsächlich symptomatisch und erfordert ein multidisziplinäres Ärzteteam.

https://www.myhresyndrome.org/