„Die Spritze ist für mich ganz normal“
Seine Hämophilie bedeutet für den zehnjährigen Leopold praktisch keine Einschränkung im Alltag – möglich macht dies die regelmäßige Gabe von Faktor VIII, auch Rollerfahren oder Fußballspielen sind ärztlicherseits durchaus erlaubt.
„Wenn ich Hämophilie höre, dann denke ich an meine Spritze und an die Blutgerinnung, also dass mein Blut eben dünner ist“, sagt der zehnjährige Wiener Gymnasiast Leopold im gemeinsamen Gespräch mit seinem Vater und Dr. Katharina Thom, Stv. Leiterin der Kinder-Gerinnungsambulanz an der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde (Klinische Abteilung für Pädiatrische Kardiologie), Wien. Was Hämophilie bedeutet und dass ihm ein bestimmter Blutgerinnungsfaktor fehlt, hätten ihm seine Eltern und Frau Dr. Thom im Krankenhaus genau erklärt. Erst kürzlich überraschte Leopold seine Eltern ebenso wie seine Ärztin, indem er sich die notwendige Faktorgabe allein venös verabreichte – seine Eltern hatten erwartet, er würde dies erst später und gemeinsam mit ihnen tun.
„Als Leopold im Alter von etwa sechs Monaten zunehmend mobiler wurde, hatte er plötzlich ein großes Hämatom an der Handfläche“, berichtet Leopolds Vater rückblickend über die erste Auffälligkeit. „Offensichtlich hatte er davon aber keine Schmerzen. Bei dem ohnehin am nächsten Tag geplanten Termin bei unserem Kinderarzt äußerte dieser gleich den Verdacht auf eine Störung der Blutgerinnung.“
Die Familie wurde zunächst an das St. Anna Kinderspital in Wien und von dort an die Gerinnungsambulanz der Universitäts-Kinderklinik weiterverwiesen, wo Leopold seither betreut wird. „Es ist ganz typisch für Kinder mit Hämophilie, dass das erste Verdachtsmoment entsteht, wenn sich die Kinder selbstständig zu bewegen beginnen – besonders, wenn die Erkrankung in der Familie zuvor noch nicht bekannt war“, sagt dazu Gerinnungsspezialistin Thom. Was die Hämophilie von vielen anderen seltenen Erkrankungen unterscheidet, ist die rasche Diagnose und gute Behandlungsmöglichkeit: „Wir wissen, was dem Körper fehlt, und können es ersetzen. Es ist eine hochwertige und aufwendige Therapie, die in Österreich aber gut und ausreichend verfügbar ist“, berichtet Thom.
Kinder so bald wie möglich mitinformieren
Mit der Diagnose und den erforderlichen Untersuchungen werden am Hämophilie-Zentrum die ersten Gespräche mit den Eltern geführt: „Wir erklären, was die Diagnose bedeutet und welche Schritte nötig sind, wobei wir bei Säuglingen zunächst ‚on demand‘, also nur bei Bedarf oder bei Blutungen, behandeln. Später brauchen die Kinder – genauso wie bei vielen anderen chronischen Erkrankungen – eine regelmäßige Behandlung“, sagt Thom.
„Ab dem Vorschul- oder Volksschulalter binden wir die Kinder nach und nach in die Gespräche ein“, setzt Thom fort. Leopold kommt alle sechs Monate mit seinen Eltern zur Kontrolle an die Gerinnungsambulanz: „Das gehört für mich so wie die Spritze zur Routine, ich bin das so gewohnt. Da wird mir Blut abgenommen, ich werde jedes Mal genau untersucht und Größe und Gewicht werden gemessen.“
Radeln, Rollerfahren, Skifahren und Ballspielen erlaubt!
Bei den gemeinsamen Gesprächen geht es dann auch um Fragen wie jene nach Vorsichtsmaßnahmen in Kindergarten, Schule oder beim Sport. „Wenn ich aufpasse, ist das für mich ok. Ich nehme in der Schule am Sportunterricht teil und fahre in der Freizeit zum Beispiel mit dem Roller“, erzählt Leopold. Nach einem Sturz beim Ballspiel in der Schule hätten ihn nur einmal die Eltern früher abgeholt, damit er eine zusätzliche Spritze bekommt.
„Risiko- oder Kontaktsportarten sollen zwar vermieden werden, sonst sollen die Kinder ganz normal aufwachsen – wir haben ärztlicherseits absolut nichts gegen Sport, auch Fußballspielen ist erlaubt, wenn vielleicht nicht gerade als Leistungssport“, betont Thom.
Möglich sei dies bei Kindern mit Hämophilie dank der prophylaktischen Gabe von Blutgerinnungsfaktoren.
„Anfänglich bekam Leopold seine Faktorgaben in der Kinderklinik. Nachdem er im Alter von etwa zweieinhalb Jahren den Shunt bekommen hatte, haben wir begonnen, den Faktor selbst zu verabreichen“, ergänzt Leopolds Vater. Seit rund einem halben Jahr sticht sich Leopold nun an Wochenenden selbst in die Vene und injiziert sich mittels Schlauch und Butterfly das Präparat.
„Der arteriovenöse Shunt erleichtert das Finden und Treffen der Venen, wodurch die Faktorgaben schon früh daheim erfolgen können“, sagt Thom. Leichte Blutungen im Zahnfleischbereich sind laut Thom unproblematisch – solange es nicht massive Verletzungen nach einem Sturz sind. „Hier funktioniert die Gerinnung weitgehend über Blutplättchen, die ja normal sind. Oft genügt ein Druck auf die blutende Stelle, um die Blutplättchen zu aktivieren. Bei stärkeren Blutungen kann Tranexamsäure direkt auf die Schleimhaut aufgetragen werden.“
Information und medizinische Betreuung
Für Kinder und Jugendliche ab neun Jahren organisiert die Österreichische Hämophilie Gesellschaft (ÖHG; www.bluter.at) jährlich Sommercamps, bei denen Informationen vermittelt und die Kinder ärztlich sowie physiotherapeutisch betreut werden. Abwechselnd mit dem Leiter der Spezialambulanz am AKH Wien, Univ.-Prof. Dr. Christoph Male, ist Thom selbst regelmäßig bei diesen Camps dabei.
Das Thema Transition ist für Jugendliche mit Hämophilie gut gelöst: „Wir arbeiten eng mit dem Team der Klinischen Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie der Medizinischen Universität Wien zusammen“, erklärt Thom. Mitunter werden nach ihrer Erfahrung erwachsene Hämophiliepatient:innen zum Teil im niedergelassenen Bereich betreut; gerade für Kinder und ihre Familien sei jedoch die Betreuung an einem spezialisierten Zentrum empfehlenswert. „Die Erfahrungen mit Patient:innen mit Gerinnungsstörungen wie Hämophilie sind recht unterschiedlich, immerhin handelt es sich um ein eher kleines Spezialgebiet der Inneren Medizin“, so Thom.
Fakten-Check: Hämophilie A
Die Bluterkrankheit Hämophilie tritt mit einer Häufigkeit von 1:5.000 bis 1:6.000 auf. Hervorgerufen wird sie durch einen Mangel oder Defekt von Faktor VIII (Hämophilie A) oder Faktor IX (Hämophilie B) in der Gerinnungskaskade. Da sie X-chromosomal rezessiv vererbt wird, sind ausschließlich Buben betroffen, bei Konduktorinnen kann jedoch eine leichte Blutungsneigung bestehen. Klinisch äußert sich der Defekt durch Blutungen etwa in Gelenken oder in der Muskulatur bzw. nach operativen Eingriffen. Schon im Alten Testament finden sich Beschreibungen von tödlich verlaufenden Blutungen bei Buben nach einer Beschneidung.
Die Diagnose erfolgt durch eine Blutgerinnungsuntersuchung, wobei laut Thom bereits die Partial Thromboplastin Time (PTT) wichtige Hinweise geben kann, da sie u.a. die Faktoren VIII und IX erfasst. „Der Normalwert liegt etwa bei 40 Sekunden, bei schwerer Hämophilie A kann die PTT bis zu 80 oder 90 Sekunden betragen.“ Je nach Faktorrestaktivität werden drei Schweregrade der Hämophilie unterschieden.
Für die Therapie der Hämophile A kann der fehlende Faktor VIII venös zugeführt werden – entweder „on demand“ bei Blutungen oder prophylaktisch, wobei Plasmaprodukte und rekombinante Faktorpräparate zur Verfügung stehen. Zudem gibt es mit Emicizumab ein sogenanntes „Faktor-VIII-Mimetikum“, das an die Gerinnungsfaktoren IX und X bindet und diese aktiviert. Dieses Medikament kann alle ein bis zwei Wochen subkutan verabreicht werden.
„Bei Säuglingen und Kleinkindern empfehlen wir nach aktueller Datenlage zunächst die Gabe von Plasmaprodukten für etwa 20 Behandlungen, um das Risiko einer Faktor-VIII-Hemmkörperbildung zu vermindern“, erklärt Thom. Die Entwicklung von Faktor-VIII-Hemmkörpern ist eine Komplikation der Hämophilie und führt dazu, dass der verabreichte Faktor nicht mehr wirkt. „Nach den ersten Faktorgaben besprechen wir mit den Eltern verschiedene Optionen, wie die Fortsetzung der Prophylaxe mit Faktor-VIII-Produkten oder gegebenenfalls eine Umstellung auf die subkutane Therapie mit Emicizumab. Bei einem späteren Wechsel auf langwirksame Präparate ist zu berücksichtigen, dass je nach Alter des Kindes aufgrund der höheren Clearance zunächst häufigere Gaben und meist höhere Dosierungen im Vergleich zu Erwachsenen erforderlich sind.“ Durch die regelmäßige Therapie sollen Blutungen in Gelenke oder Weichteile verhindert bzw. oder ausreichend behandelt werden, um in der Folge chronische Gelenksschäden mit Bewegungseinschränkungen und langwierigen Schmerzen zu verhindern. Dank der Verfügbarkeit und Substitution von Faktor VIII bzw. IX haben Menschen mit Hämophilie A oder B heute eine normale Lebenserwartung mit sehr guter Lebensqualität und kaum Einschränkungen im Alltag.
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) und Mag. Patricia Herzberger (Redakteurin medonline, CR Medical Tribune) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen