In der Klassifikation nicht vorgesehen: der inaktive Migränestatus
Eine einmal auftretende Migräne ist kein lebenslanges Schicksal. Vielmehr setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass Migräne bei vielen Betroffenen auch wieder vergeht. Besonders häufig ist dieser inaktive Migränestatus bei älteren Frauen – und er hat nicht nur erfreuliche Konsequenzen.
Erkrankungen können klassifiziert werden nach spezifischen Symptomen, genetischen Faktoren, Biomarkern oder dem Verlauf über die Zeit. Diese Klassifikation wird benötigt, um Patient:innen, Forscher:innen und Behandler:innen zu adäquaten Maßnahmen zu veranlassen, die unterschiedliche Phänotypen mit unterschiedlichen klinischen Manifestationen und unterschiedlicher Prognose berücksichtigen. Als Beispiel nennt Univ.-Prof. DDr. Tobias Kurth vom Institut für Public Health der Charité – Universitätsmedizin Berlin die Multiple Sklerose, bei der unterschiedliche Muster der Krankheitsaktivität die Prognose und die Therapieentscheidungen beeinflussen. Kopfschmerzen können anhand ICHD-Klassifikation1 heute sehr genau in unterschiedliche Erkrankungen klassifiziert werden, was die Entwicklung von Therapien, die Suche nach Triggerfaktoren und die Durchführung von Studien deutlich erleichtert hat. Diese Klassifikation hat auch dazu geführt, dass die altersspezifische Punkt-Prävalenz sowie die annualisierte Inzidenz der Migräne ermittelt werden konnten. Dabei zeigte sich, dass Migräne weltweit die zweithäufigste Ursache von Behinderung ist und bei jungen Frauen sogar an erster Stelle steht. Damit ein Kopfschmerz als Migräne klassifiziert wird, muss er fünf Kriterien erfüllen: Der/die Patient:in muss mindestens fünf Attacken durchgemacht haben, die Attacken dauern unbehandelt zwischen vier und 72 Stunden, der Kopfschmerz muss bestimmte Charakteristika aufweisen (z.B. einseitig, pulsierend etc.), Begleitsymptome müssen vorhanden sein und der Schmerz darf auf keine bekannte Ursache zurückführbar sein.
Punktprävalenz und Lebenszeitprävalenz
Üblicherweise wird für die Klassifikation der aktuelle Zeitpunkt oder das Jahr vor der Klassifikation herangezogen. In genetischen Studien wird manchmal nach Migräneattacken im bisherigen Leben gefragt, so Kurth. Diese Vorgehensweisen führen jedoch zu ambivalenten Ergebnissen. Denn wenn ausschließlich der Zeitpunkt der Diagnose betrachtet wird, haben Patient:innen, die im vergangenen Jahr keine Migräneattacken hatten, keine Migränediagnose. Wird jedoch nach der Lebenszeitprävalenz gefragt, so hat jeder Mensch, der zu irgendeinem Zeitpunkt die Klassifikationskriterien erfüllte, Migräne und dieser Status bleibt lebenslang erhalten.