Das vergessene Leiden der Long-Covid-Betroffenen
Das vierte G in der COVID-19-Pandemie, nämlich „Grauslich chronisch krank“ werde vernachlässigt, wirft der Wiener Neurologe Dr. Michael Stingl im ORF-Talk „Im Zentrum“ am 09.01.2022 zum Thema „Omikron-Roulette: Regiert das Prinzip Hoffnung?“ ein. Hoffnung auf wirksame Therapien in den nächsten Jahren sowohl für Long Covid als auch für das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) habe er schon, aber es brauche von der Politik (mehr) Aufklärung, dass es Long Covid im Sinne einer Post Exertional Malaise (PEM) auch nach asymptomatischen und milden Verläufen geben könne. Und er fordert ein Ende des „Spießrutenlaufs“ im Gesundheitssystem und amArbeitsmarkt für die Betroffenen.
Dr. Michael Stingl, Spezialist für ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) und damit auch für Long Covid, vergleicht die Roulette-Metapher mit mehreren Kugeln, nur eine davon ist Long Covid. Er maße sich aber nicht an, die Strategie der Regierung zu beurteilen, sein Punkt sei: Die Tatsache, „dass es einen gewissen Prozentsatz an Leuten gibt, die langanhaltende Probleme haben werden, ist – zumindest in der Kommunikation – komplett ausgeklammert“. Auch ME/CFS ist für ihn, der sich schon vor Corona mit Folgeschäden von Viruserkrankungen befasst hat, „eine ignorierte und vernachlässigte Thematik“.
Long Covid wie CFS: Manche „ans Bett gebunden“
CFS-Patienten seien Patienten, die in sehr vielen Fällen einen viralen Infekt hatten, erläutert Stingl, sich davon aber nicht erholt haben und die „teilweise ans Bett gebunden sind und überhaupt nichts mehr machen können“. Dass es solche Folgen auch nach einer SARS-CoV-2-Infektion geben könne, ist seiner Meinung nach nicht adäquat kommuniziert worden, sodass sich die Bevölkerung auch etwas darunter vorstellen könne. Es gehe nicht nur um Intensivstationen und um Tod, nicht nur um Lungenschäden usw., sondern eben auch um eine „nicht so seltene Komplikation“: Etwa zehn Prozent der Menschen seien nach aktuellem Wissensstand – „in Österreich werden die Zahlen leider nicht erhoben“ – anhaltend krank und in ihrer Lebensführung beeinträchtigt und auch nicht arbeitsfähig. Bisher gebe es nur ein paar vereinzelte Ambulanzen, die mehr oder weniger „Stückwerk“ seien.
Dr. Gerald Rockenschaub, designierter Direktor für gesundheitliche Notlagen in der Europäischen Region, Weltgesundheitsorganisation (WHO), bestätigt in diesem Zusammenhang, dass die Sorge der WHO de facto wirklich groß sei. Als „einzig wirksame und risikoärmste Intervention“, um Long Covid vorzubeugen, nennt er die Impfung: „Und das sollte auch wirklich zusätzlich Menschen, die bislang nicht geimpft sind, dazu motivieren, sich impfen zu lassen.“ Es sei momentan einer der Hauptschwerpunkte, eine international koordinierte Strategie zu entwickeln, um Long Covid mittelfristig und langfristig unter Kontrolle zu bekommen und entsprechende Präventions- aber dann auch Behandlungsstrategien zu entwickeln.
Stingl bringt aufs Tapet, dass man bei den Definitionen nachschärfen sollte: Es sei nichts Ungewöhnliches, wenn man nach einem schweren Verlauf mit Krankenhausaufenthalt klarerweise Folgeprobleme habe. Aber: „Das, worum es aus meiner Sicht bei Long Covid geht, sind vor allem junge Leute, die eher milde Verläufe hatten, wobei ‚milde‘ auch ein sehr dehnbarer Begriff ist.“ Dazu würden auch wesentlich heftigere Symptome als bei grippalen Infekten gehören, wie ihm seine Patienten berichten. Es gebe jedoch auch „komplett asymptomatische Leute“ oder welche, die nur einen Schnupfen hatten.
Long Covid: Definitiv auch Kinder betroffen
„In dem Moment, wo sie wieder beginnen sich stärker zu belasten, erleben sie oft bei sehr banalen Anstrengungen eine massive Verschlechterung des Zustandes.“ Diese sogenannte Post Exertional Malaise (PEM) sei eben das Kennmerkmal in Analogie zu ME/CFS – und das, „was in meinen Augen Long Covid ist“. Die Begriffe würden aber vermischt. Derzeit gebe es eine Definition rein anhand von Symptomen wie Fatigue oder auch kognitiven Problemen usw.
„Milde Verläufe nützen nichts gegen Long Covid“, sieht Stingl momentan ein großes Problem in der Kommunikation der Regierung nach außen. Und: Von Long Covid seien „definitiv“ auch Kinder und Jugendliche betroffen. Er sei zwar Erwachsenen-Neurologe, „ich habe aber schon genug Jugendliche gesehen, ab 12 Jahren, nicht nur nach Corona, auch nach anderen Viren. ME/CFS habe zwei Altersgipfel: zwischen 15 und 20 sowie zwischen 30 und 35. „Genau das sehen wir bei Long Covid auch.“ Es sei vermutlich seltener als bei Erwachsenen, „aber es ist trotzdem da“.
Reich: Long Covid auch in GECKO Thema
Dr. Katharina Reich, Chief Medical Officer (CMO) bzw. Generaldirektorin für die Öffentliche Gesundheit im Gesundheitsministerium, hält fest, dass sich das Gesundheitsministerium „schon sehr lange“ mit Long Covid beschäftige, man habe auch über den Obersten Sanitätsrat eine eigene Spezialisten-Gruppe eingerichtet. Außerdem sei eine Mitarbeiterin im Ministerium Neurologin, die das Thema „sehr hoch am Schirm“ habe. „Aber wir wollen nicht Long Covid behandeln, sondern wir wollen, dass die Menschen kein Long Covid bekommen“, sagt CMO Reich.
Und die Impfung sei hier das Mittel der Wahl: „Wir können immer nur aufrufen, auch für Leute, die sich gesund, stark und fit fühlen, Covid nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, weil es eben Menschen trifft, die mit den besten Voraussetzungen sozusagen in so eine Viruserkrankung hineingehen und glauben, dass sie mit diesen Voraussetzungen dieses Virus schon schultern werden.“ Das Virus mache vor niemandem halt, „und das muss man sich in dieser Zeit immer wieder vor Augen halten und wir werden noch einmal die Kommunikation entsprechend darauf ausrichten“, kündigt Reich an. Long Covid sei auch in GECKO (gesamtstaatliche Covid-Krisenkoordination) ein Thema, informiert die GECKO-Chefin.
Was sichere Schulen betrifft sowie zur Kritik, dass es zwei PCR-Tests pro Woche erst ab 17.01.2022 in allen Bundesländern gebe, sieht sie das Testsystem im Vergleich zu anderen Ländern „gut aufgestellt“. Das heiße nicht, dass es schon optimal sei, aber „wir sind laufend dran“. Jedes Bundesland habe hier Anstrengungen unternommen, dass hier mehr als ein PCR-Test angeboten werde. Das Bildungsministerium und das Gesundheitsministerium seien „mehr als einmal in der Woche“ zusammen, um die Lage zu bewerten. Wenn es diese erfordert, „dann müssen wir die Strategie ändern“.
Rockenschaub informiert seinerseits, dass die WHO gemeinsam mit der UNICEF versucht hat, Strategien für sichere Schulen zu entwickeln und auch argumentiert, „dass die Schulen tatsächlich eine der letzten Institutionen sein sollten, die schließen sollten. Die Impfung sei das probate Mittel, um sowohl das Gesundheitspersonal als auch die breite Bevölkerung zu schützen.
Klimek: „Flexibilität“ bei Impfpflicht
Aufhorchen ließ Komplexitätsforscher und GECKO-Mitglied Ass. Prof. PD Mag. Dr. Peter Klimek, Complexity Science Hub Vienna, als er angesprochen auf eine Impfpflicht eine gewisse Sympathie für das Modell in Italien (ab 50 Jahren) durchblicken ließ und das wie folgt begründet: „Wir müssen die Impfung mehr und mehr als eine sehr wirksame Maßnahme verstehen, die einen langfristigen Schutz vor allem vor einer schweren Erkrankung mit einem eher kurzfristigen Schutz vor einer milden Infektion verbindet.“ Wie hoch dieser Schutz vor einer milden Infektion sei, hänge auch vom Impfstoff und von der Variante ab.
Klimek plädiert daher für „Flexibilität“ und bringt als vereinfachtes Beispiel: Wenn eine Impfung sehr gut vor einer Infektion schütze, „dann zahlt es sich für die Bevölkerung als Ganzes aus, wenn ich zuerst die Jungen impfe, die viel stärker zur Verbreitung der Variante, der Infektionen beitragen“. Bei einer Impfung, die so gut wie nicht vor einer Infektion, aber sehr zuverlässig und lange und auch in höheren Altersgruppen vor einer schweren Erkrankung schütze, sollte vor allem in diesen Altersgruppen geimpft werden.
Zum Thema einer solchen „flexiblen“ Impfpflicht oder zur Impfpflicht generell, bei der sich u.a. Burgenlands SP-Landeshauptmann Mag. Hans Peter Doskozil für eine „Nachdenkpause“ eingesetzt hat, will sich Reich, ihres Zeichens auch Mitglied im 18-köpfigen Nationalen Impfgremium (NIG), allerdings nicht äußern, „weil es mir nicht zusteht, diese politischen Entscheidungen zu kommentieren oder zu bewerten“.
Nach Krankenstand Arbeitsfähigkeit attestiert, „wo keine ist“
Zu klaren Aussagen, wann und ob Schulschließungen nötig seien, legte sich niemand fest. Dass es aber auch um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur bzw. Kinderbetreuung in der Omikron-Welle gehe, trat deutlich zutage. Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer Wien und der Bundesarbeiterkammer, fordert zudem, dass Long Covid in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wird.
Neurologe Stingl sei jedenfalls froh, nicht über Schulschließungen entscheiden zu müssen. Aus seiner Perspektive als Arzt wäre es wichtig, Kapazitäten der Nachbetreuung zu schaffen. „Wenn das nicht passiert, läuft man Gefahr, dass man Jugendliche und Erwachsene dauerhaft aus dem Arbeitsprozess herausnimmt und ihnen dauerhaft die Grundlage der Existenz entzieht“, berichtet Stingl von einem „Spießrutenlauf durch das Gesundheitssystem“, den so manche Long-Covid-Patienten erleben: Die ÖGK (Österreichische Gesundheitskasse) sage, der Krankenstand müsse irgendwann beendet werden, die PVA (Pensionsversicherungsanstalt) sage, es gebe kein Reha-Geld. „Ich kenne das zu gut von ME/CFS“, den Betroffenen werde Arbeitsfähigkeit attestiert, „wo keine ist“.
Er habe zwar große Hoffnung, dass es in den nächsten Jahren Therapien geben wird, die helfen, sowohl für Long Covid als auch für ME/CFS, „weil es vermutlich sehr ähnlich ist“. Aber derzeit gebe es weder eine garantierte Absicherung der Betroffenen noch irgendeine Therapie, die „wirklich verlässlich“ wirke. Man brauche eine Perspektive, wie man damit umgehen solle, dass sehr viele Leute anhaltend krank sein werden: Das sei das vierte G, „grauslich chronisch krank“, das seiner Meinung nach in der Diskussion untergehe.
Auf Nachfrage der Redaktion, worauf Ärzte und Apotheker im Sinne ihrer Patienten achten sollen und was derzeit hilfreich wäre, rät Stingl auf das Kennmerkmal PEM zu achten, auf die Notwendigkeit von „Pacing“ hinzuweisen sowie auf die Häufigkeit von Kreislaufproblemen, wo er die Durchführung eines Schellong-Tests empfiehlt (mehr dazu hier).
Risiko Long Covid bei Impfdurchbrüchen offenbar etwas reduziert, aber vorhanden
Stingl erneuerte gegenüber der APA seine Forderung nach einer Aufklärungskampagne, und zwar nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Ärzteschaft, wie der ORF am 11.01.2022 berichtet. Dazu stellt der Mediziner hinsichtlich der Hoffnung der Impfung als „Prävention“ gegen Long Covid klar, dass diese zwar vor schweren Verläufen schütze, bei Durchbruchsinfektionen sei jedoch das Risiko, Long Covid zu entwickeln, nach aktueller Datenlage offenbar etwas reduziert, aber auf jeden Fall noch vorhanden. Die Impfung reduziere aber Long Covid indirekt, wenn sie eine Infektion verhindert.