Europäisches Forum Alpbach 2017: Konflikt und Kooperation

Ungewöhnliche Emotionen vermeintlicher „Brüsseler Technokraten“, massive Kritik an der Pharmaindustrie sowie der schon so oft ungehört gebliebene Ruf nach mehr Kooperation in der Medizin – über Interessenkonflikte und Sektoren­grenzen hinweg – prägten die diesjährigen Alpbacher Gesundheitsgespräche. (CliniCum 09/17)

Es war ein überaus emotionales – für viele der fachorientierten Zuhörer spürbar irritierendes – Plädoyer, mit dem der amtierende EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherpolitik Vytenis Andriukaitis die Alpbacher Gesundheitsgespräche eröffnete. Er kämpfe seit zweieinhalb Jahren in Brüssel unentwegt darum, die Menschen in ­Europa so gesund wie möglich zu ­halten, schleuderte Andriukaitis dem Publikum entgegen, es sei aber schwierig, „gegen die Profitgier der Industrie anzukämpfen“. Die europäische Gesundheitspolitik scheitere laut Andriukaitis vor allem daran, das vorhandene Wissen in die Praxis umzusetzen. Als ausgebildeter Herzchirurg verstehe er es einfach nicht, warum die Industrie, die gesundheitsschädigende Lebensmittel mit zu viel Fett, Zucker oder Salz, Alkohol oder Tabakprodukte herstelle, „nur so dumm sein“ könne, ihre „Kunden zu töten“.

Andriukaitis Kritik richtete sich zwar explizit an die Lebensmittelindustrie, sollte sich aber als richtungsweisend für die gesamte Veranstaltung herausstellen: Die vermeintliche Macht und „Profitgier“ der Industrie im Allgemeinen und der Pharmaindustrie im Speziellen stand im Mittelpunkt zahlreicher Diskussion und Sessions. Bereits in der allerersten Wortmeldung der offiziellen Eröffnung hatte die Vizepräsidentin des Europäischen Forum Alpbach, Univ.-Prof. Dr. Ursula Schmidt-Erfurth, von einem „zu­sammengebrochenen Wirtschaftsmodell“ der Pharmaindustrie gesprochen, das zunehmend den „Zugang zu innovativen Medikamenten gefährdet“. Als Beispiel nannte sie ­Sofosbuvir. Mit diesem revolutionären Wirkstoff gegen die chronische Hepatitis C habe jener US-Pharmakonzern, der zwölf Milliarden US-Dollar in dessen Entwicklung investiert hatte, „bereits 35 Milliarden US-Dollar Gewinn gemacht“. Die Vergabe von Lizenzen für die kostengünstige Herstellung in Indien sei zwar erfreulich, so Schmidt-Erfurth weiter, das helfe aber den etwa „40.000 betroffenen Patienten in Österreich wenig“.

Wie auch Bundesministerin Rendi-Wagner (Kommentar siehe Kasten unten) sieht Schmidt-Erfurth die öffentliche Gesundheitsversorgung nämlich längst auch in den hochentwickelten europäischen Staaten durch die Preispolitik mancher Pharmaproduzenten bedroht. Gleiches gilt für Jo De Cock vom nationalen Institut der belgischen Gesundheits- und Invaliditätsversicherung. Die Preise für Onkologika würden laut neuester Prognosen in den kommenden Jahren um bis zu acht Prozent pro Jahr steigen, rechnete De Cock vor. Dabei hätten sich bereits in den letzten zehn Jahren „die Kosten für ein gewonnenes Lebensjahr von 100.000 auf 200.000 US-Dollar verdoppelt“. Längst habe sich somit der mit innovativen Therapien erzielbare Patientennutzen von der Preisgestaltung abgekoppelt. Es brauche daher „dringend mehr Ratio, Transparenz und faire Verhandlungen mit der Pharmaindustrie. Preissteigerungen müssen nachvollziehbar und verständlich sein“.

Prioritäten setzen

De Cock bekannte sich zwar zur öffentlichen Finanzierung von Pharmaforschung, gleichzeitig müsse man aber gemeinsam festlegen, wie die Industrie diese öffentlichen Mittel einsetzt. Denn die „Profitinteressen der pharmazeutischen Industrie“ würden oft nicht mit dem öffentlichen Interesse kongruent sein, führte De Cock aus. Die Regierungen müssten daher „klare Prioritäten setzen“. Anderer Meinung ist, wenig überraschend, Andreas Penk, Leiter der Onkologie-Abteilung für entwickelte Märkte von Pfizer: „Ich denke, dass Regierungen viel mehr Macht haben, als dies hier behauptet wird“, replizierte der frühere Geschäftsführer von Pfizer Österreich auf die Ausführungen von De Cock. Er verstehe schon die Argumentation der Politik, wonach hohe Medikamentenpreise Druck auf die Sozialsys­teme ausüben würden, sagte Penk. Das diskutiere man „schließlich schon seit den 1960er Jahren. Aber Sozialsys­teme sind bis heute nicht zusammengebrochen, sie blühen vielmehr.“

Enorme Fortschritte in Europa

Im gleichen Zeitraum habe sich die Situation von Krebspatienten dank der Fortschritte der Pharmaindustrie „stark gebessert“, so Penk: „Jedes Jahr bekommen die Krebspatienten drei Monate mehr Lebenserwartung. Das sind wirklich große Fortschritte. Heute haben die Patienten in Europa – vielleicht mit Ausnahme Japan – weltweit den zweitbesten Zugang zu innovativen Therapien.“ Dennoch steht die Pharmaindustrie laut Penk für eine Adaptierung bzw. Stärkung der derzeitigen Kooperationsmodelle zwischen Industrie, Gesundheitspolitik und Wissenschaft zur Verfügung, damit „unsere innovativen Systeme auch tatsächlich zu den Patienten kommen“. Dazu müssten aber alle Seiten „bereit sein, sich zu verändern. Es liegt nicht an uns, dass wir das nicht tun.“ Penk empfiehlt der europäischen Gesundheitspolitik daher eine ähnlich intensive Zusammenarbeit mit der Industrie, wie es sie etwa China schon seit Jahren pflegen würde. „China möchte führend werden im Bereich der Lebenswissenschaften – und sie werden das auch schaffen, in Kooperation mit der Industrie“, ist Penk überzeugt. Wolle Europa die Entwicklung nicht verpassen, seien zukünftig jedenfalls deutlich höhere öffentliche Investitionen in die Medikamentenforschung unumgänglich.

 

„Wir haben uns zu lange nicht darum gekümmert.“

Auszüge aus der Keynote von Bundesministerin Univ.-Prof. Dr. Pamela Rendi-Wagner im Rahmen der Session „Leistbarer Zugang zu innovativen Medikamenten“.

Die Medikamentenkosten sind ein ganz wesentlicher Aspekt für die nachhaltige Finanzierbarkeit und damit Leistbarkeit des Gesundheitssystems. Die Bedeutung dieses Faktors nimmt aufgrund der stetig wachsenden Innovation und Forschung weiter zu. Das ist der positive Punkt, denn Innovationkraft ist für die Medizin und die Patienten essenziell. Ich erinnere nur an die großen Erfolge, die in den letzten Jahren etwa bei der HIV-Therapie oder im Bereich der Onkologie gelungen sind. Aber politisch muss man die Entwicklung auch kritisch sehen: Trotz massiver Investitionen und der genannten Erfolge stagniert die Produktivität der Pharmaindustrie insgesamt. Gleichzeitig sehen wir aber, dass steigende Preise für innovative Medikamente die Nachhaltigkeit und Stabilität des öffentlichen Gesundheitssystems aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Was bis vor ein paar Jahren nur auf Entwicklungsländern zutraf, gilt heute für alle Staaten, auch für Österreich.

Ein anderer kritischer Aspekt betrifft die Existenz medizinischer „Gaps“, Krankheitsfelder, wo wir kaum Therapiefortschritte sehen oder Therapie­optionen bislang komplett fehlen. Das trifft nicht nur auf den Bereich der seltenen Erkrankungen zu, sondern etwa auch bei Infektionserkrankungen und den großen Problemen bezüglich der Antibiotikaresistenzen. Hier gibt es bislang offensichtlich nicht genug – oder nicht die richtigen – Anreize für die Industrie zu investieren, weil die Markt- und Ertragsaussichten gering sind, die Entwicklungskosten aber hoch. Das ist ein Ungleichgewicht, für das wir Lösungen finden müssen.

Wir wissen aus den OECD-Daten, dass 30 Prozent der Kosten für die Entwicklung von Pharmaka durch öffentliche Gelder abgedeckt werden. Aber haben wir als Öffentlichkeit, als Politik irgendwelchen strategischen Einfluss, um mitzuentscheiden, wohin diese Gelder fließen? Nein! Das ist nicht alleine Schuld der Industrie, dafür ist auch die Politik verantwortlich. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten nicht darum gekümmert. Es ist also höchste Zeit, unsere Strategie zu ändern. Wir müssen besser koordinieren und kooperieren mit allen Stakeholdern auf der europäischen, der internationalen Ebene. Wir müssen gemeinsame Ziele definieren, und diese Ziele müssen im Einklang sein mit den Bedürfnissen der Public Health. Wir müssen sicherstellen, dass der faire Zugang zu innovativen Arzneimitteln und Therapien für alle Menschen in Österreich auch in Zukunft gesichert ist. Unsere zukünftige EU-Präsidentschaft 2018 wird hier Prioritäten setzen, um die Diskussion zu diesem wichtigen Thema auf europäischer politischer Ebene, auf Expertenebene und natürlich mit der Industrie als einem der zentralen Stakeholder zu verbessern.

 

Gemeinsame Lösungen statt pauschaler Diffamierungen

„Ja, wir müssen an neuen Preismodellen arbeiten, aber wir müssen das gemeinsam tun, mit aller Offenheit und Transparenz“, antwortete Pharmig-Präsident Mag. Martin Munte auf die massive Kritik, die ihm in Alpbach entgegen schlug. „Wir diskutieren über Preismodelle mit unseren Systempartnern, weil wir uns als Teil der Lösung sehen, nicht als Problem. Wir müssen dabei aber die Innovationskraft unserer Branche im Auge behalten. Der Wert unserer Produkte für die Menschen ist mit keinen Produkten einer anderen Branche vergleichbar.“
Über den Ausstieg der Pharmig als Hauptsponsor der Gesundheitsgespräche und dessen Folgen meinte Pharmig-Generalsekretär Dr. Jan Oliver Huber: „Wir haben über viele Jahre eine Partnerschaft gepflegt, im Laufe derer die Gesundheitsgespräche zu einer international bedeutenden Plattform wurden. Aufgrund bereits länger bestehender, mitunter öffentlich gemachter Aversionen gegen die pharmazeutische Industrie als Teil dieser Partnerschaft haben wir uns zurückgezogen. Mit Blick auf das heurige Motto der Gesundheitsgespräche muss ich leider den Schluss ziehen, dass einzelne im Beirat des Europäischen Forums die Herausforderung zwischen Konflikt und Kooperation nicht oder nur bedingt zu meistern verstehen.“

Europäisches Forum Alpbach 2017, Gesundheitsgespräche, Alpbach, 20.–22.8.17