25. Aug. 2021Früherkennung von 31 Krankheiten

Piks in Säuglingsferse: Spinale Muskelatrophie und SCID im Neugeborenen-Screening

Ein kleiner Stich mit großer Wirkung: Das Österreichische Neugeborenen-Screening (ÖNGS) – europaweit eines der besten Früherkennungsprogramme – ist um die spinale Muskelatrophie (SMA) und die schweren Immundefekte (SCID) von 29 auf nunmehr 31 Krankheiten erweitert worden. Grund sind neue Medikamente bzw. neue Therapien, die durch rechtzeitiges Eingreifen Behinderungen vermeiden oder in ihrem Ausmaß deutlich verringern. Jährlich können so zirka 150 Kinder frühzeitig therapiert werden.

medizinische Person, die neugeborene Babyferse für Blutprobenprüfung sticht.
iStock/dblight

Der zweite Schrei kommt spätestens mit dem Fersenstich: 36 bis 72 Stunden nach der Geburt sorgt ein Piks für ein paar Tropfen Blut, das auf eine Filterpapierkarte bzw. Trockenblutkarte kommt. So stabilisiert kommt die Probe ins Neugeborenen-Screening-Labor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde (Leiterin: Univ.-Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer), Medizinische Universität Wien. Das in den 1960er Jahren eingeführte „Österreichische Früherfassungsprogramm“ konnte bereits zirka 3.000 erkrankte Kinder finden und frühzeitig therapieren.

28 angeborene Krankheiten (zwei Hormonstörungen, 25 angeborene Stoffwechselkrankheiten und die Zystische Fibrose) sowie zuletzt den meist maternal bedingten Vitamin-B12-Mangel klärte das Screening bis jetzt ab (Details siehe Eltern-Folder von der MedUni Wien). Seit Juni 2021 sind – vorerst als einjähriges Projekt – die spinale Muskelatrophie (SMA) und die schweren Immundefekte (Severe Combined Immunodeficiency, SCID) dazugekommen.

Ohne Behandlung droht manchen Kindern der Tod

Bei all diesen Erkrankungen – in Summe nunmehr 31 – können „nur durch ein rechtzeitiges Eingreifen“ Behinderungen vermieden oder in ihrem Ausmaß deutlich verringert werden, informiert die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) am 13.08.2021 in einer Aussendung*. Ohne frühe Behandlung würden in manchen Fällen betroffene Kinder versterben. „Auch bei der spinalen Muskelatrophie ist ein frühzeitiger Behandlungsbeginn entscheidend für den Krankheitsverlauf bzw. die Lebensqualität des Kindes und seiner Familie“, erklärt OÄ Dr. Vassiliki Konstantopoulou, medizinische Leiterin des ÖNGS an der Medizinischen Universität Wien.

So führe eine Form der SMA, die infantile Form SMA1, wenn sie nur konservativ-symptomatisch behandelt wird, „innerhalb der ersten 24 Lebensmonate meist zum Tod“. Bei anderen SMA-Formen würden Patienten ohne Therapie zum Teil schwere Lähmungserscheinungen entwickeln. Konstantopoulou: „Erst seit Kurzem stehen kurative Therapeutika für diese Krankheit zur Verfügung.“

SMA: Mittlerweile drei Medikamente, eines davon oral

Diese neuen Therapiemöglichkeiten der SMA bzw. die Aufnahme in das Neugeborenen-Screening hatte OÄ Dr. Astrid Eisenkölbl, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Kepler Universitätsklinikum Linz (KUK), im Fortbildungsmagazin „Pädiatrie & Pädologie“ in einem am 23.03.2021 publizierten Artikel1 diskutiert: Der genetische Defekt liegt auf dem Survival-motor-neuron-1-Gen (SMN1-Gen), wodurch es zu einem Verlust von SMN1-Protein und damit zum Untergang von Motoneuronen kommt, heißt es im Abstract.

Bei allen Patienten liege das SMN2-Gen, das nur zirka zehn Prozent funktionstüchtiges Protein bilden kann, in unterschiedlicher Kopienanzahl vor und beeinflusst den klinischen Schweregrad der Erkrankung – wobei es fließende Übergänge zwischen den einzelnen Typen gebe. Das erste für die SMA zugelassene Medikament ist Spinraza® (2017), ein intrathekal verabreichtes Antisense-Oligonukleotid, das das mRNA-Splicing verändert und so zu einer vermehrten Produktion von SMN2-Protein führe. Im Mai 2020 folgte Zolgensma® – eine Genersatztherapie, bei der das SMN1-Gen mittels eines Virusvektors als Einmalinfusion verabreicht werde, um dann funktionierendes SMN-Protein zu bilden.

Kurz vor der Zulassung stand damals Risdiplam (wurde mittlerweile, am 30.03.2021, unter dem Handelsnamen Evrysdi® in der EU zugelassen, Anm. d. Red.). Dies sei ein sogenanntes „small molecule“, schreibt Eisenkölbl, und setze wie Spinraza® am SMN2-Gen an. Der Vorteil bestehe in der Möglichkeit der oralen Einnahme. Für alle drei Medikamente zeigten die Studien, dass ein möglichst früher, am besten präsymptomatischer Beginn die besten Ergebnisse in den motorischen Scores für die kleinen Patienten erbracht hat. Also ideal für die Aufnahme in das Neugeborenen-Screening, was Eisenkölbl auch vorgeschlagen hat, um die betroffenen Kinder vor Symptombeginn zu detektieren.

SCID: 1 von 10.000 Kindern betroffen, auch hier Hilfe möglich

Unter der Abkürzung SCID wiederum werden „schwere angeborene Immundefekte“ zusammengefasst, bei denen das Immunsystem von Geburt an nicht richtig funktioniere, erläutert die ÖGKJ in ihrer Aussendung. Auch diesen Neugeborenen – etwa 1 von 10.000 leidet darunter – kann geholfen werden: mit Antibiotika gegen bakterielle Infektionen, Antimykotika gegen Pilzerkrankungen, Virostatika gegen virusbedingte Infektionen sowie Immunglobulinen und/oder Stammzelltransplantationen.

Zurück zur kleinen Ferse: Die Blutstropfen daraus – bei einer Hausgeburt übernimmt die Hebamme die Blutabnahme und die Einsendung der Filterpapierkarte – werden im ÖNGS-Labor der MedUni Wien innerhalb weniger Tage ausgewertet. „Liegt eine Erkrankung vor, verständigen die jeweiligen Experten umgehend die Eltern, klären sie auf und leiten eine Behandlung ein – meist in einer Spezialabteilung, wie z.B. ein Stoffwechselzentrum“, schildert Konstantopoulou den Ablauf.

Expertenteams verschiedener Spezialbereiche an den Universitätskliniken für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien, Graz, Innsbruck und Salzburg, aber auch an vielen Kinderabteilungen in anderen Spitälern Österreichs sowie Kinderärztinnen und Kinderärzte übernehmen dann die Betreuung und speziellen Therapien, wie die Eltern im Folder erfahren.

Damit sie sichergehen können, dass bei ihrem Baby das Screening durchgeführt wird, können sie anhand der Kartennummer (als Klebeetikette abnehmbar) auf www.neugeborenenscreening.at selbst überprüfen, ob die Karte tatsächlich im Labor eingelangt ist, erläutert Greber-Platzer im Folder. Eine Verständigung erfolgt aber nur bei einem auffälligen Testergebnis. Das Labor fordert eine zweite Filterpapierkarte an, wenn der Verdacht auf eine mögliche Erkrankung besteht, wenn zu wenig Blut auf die Karte aufgetropft wurde oder wenn der Abnahmezeitpunkt nicht optimal war.

Auch gesund aussehende Babys sollten gescreent werden

Greber-Platzer appelliert auch an alle Eltern, die keine Erkrankungen in der Familie haben und deren Baby gesund aussieht, das kostenlose Screening in Anspruch zu nehmen: „Tatsächlich ist es so, dass es in den meisten betroffenen Familien bisher keine solchen Erkrankungen gegeben hat. Babys mit Stoffwechsel- bzw. Hormonstörungen oder Fehlfunktionen der Organe sehen zumeist ganz gesund aus.“ Wenn sich schließlich Symptome zeigen würden, sei es für eine optimale Behandlung oft schon zu spät.

Pro Jahr werden in Österreich zirka 85.000 Neugeborene gescreent, bei etwa 100 Kindern wird eine angeborene Erkrankung und bei 50 Babys ein Vitamin-B12-Mangel entdeckt (siehe Zahlen und Daten von 2015–2019). Mit einer SMA erblicken etwa 9–12 Kinder jährlich das Licht der Welt – die seltene Motoneuronenerkrankung zählt zu den häufigsten Todesursachen im Säuglings- und Kindesalter. Neben u.a. den skandinavischen Ländern, Italien und Portugal ist Österreich eines der wenigen europäischen Länder, die Neugeborene auf mehr als 20 Krankheiten screenen. Mit den projektbasierten Krankheiten sind es nun mehr als 30.

*Weitere Infos auf der Internetseite der ÖGKJ für Eltern und Interessierte: www.kinderaerzte-im-netz.at

1 Eisenkölbl, A. Neue Therapiemöglichkeiten der spinalen Muskelatrophie. Paediatr. Paedolog.56, 59–66 (2021). https://doi.org/10.1007/s00608-021-00870-0