19. Juli 2023Europäische Gesellschaft für Hypertonie

Neue Hypertonie-Leitlinie in Europa

Die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (ESH) publizierte kürzlich ein neues Strategiepapier gegen Bluthochdruck. Im Gegensatz zur USA bleibt die Hypertonie-„Schranke“ für eine medikamentöse Therapie bei 140/90mmHg. Bei guter Verträglichkeit sollten die Zielwerte aber niedriger sein.

Der Arzt überprüft den Blutdruck des Patienten in der Klinik, das Risiko von Bluthochdruck und beugt Krankheiten vor
Ivan-balvan/GettyImages

Weltweit sind 1,28 Milliarden Menschen im Alter von 30 und 79 Jahren von Bluthochdruck betroffen, zitiert die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (ESH) Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Damit sei die Hypertonie das weltweit „am meisten verbreitete Herz-Kreislauf-Problem“. 2019 betrug der altersstandardisierte Anteil der Betroffenen unter den Erwachsenen 34% bei den Männern und 32% bei den Frauen.

In Europa sei die Häufigkeit ähnlich, jedoch mit Werten unter dem Durchschnitt im Westen und darüber in den osteuropäischen Staaten, schreiben die Fachleute im Journal of Hypertension. Vorsitzende des Autorenteams sind Prof. Dr. Giuseppe Mancia, Universitätsklinik Mailand und Prof. Dr. Reinhold Kreutz, Charité Berlin. Aus Österreich ist Priv.-Doz. OA Dr. Thomas Weber, Klinikum Wels-Grieskirchen, beteiligt.

Einteilung prinzipiell gleich geblieben

Grundsätzlich hat sich in der neuen Leitlinie an der Einteilung der Blutdruck-Werte nichts geändert:

  • optimaler Blutdruck: <120/80mmHg
  • normaler Blutdruck: 120–129/80–84mmHg
  • hochnormaler Blutdruck: 130–139mmHg und/oder 85–89mmHg
  • Hypertonie Grad 1: 140–159mmHg und/oder 85–89mmHg
  • Hypertonie Grad 2: 160–179mmHg und/oder 100–109mmHg
  • Hypertonie Grad 3: >180mmHg und/oder >110mmHg

Eine medikamentöse Therapie sollte zumindest ab der Hypertonie ersten Grades (140/90mmHg) beginnen, bei über 80-Jährigen ab 160mmHg. Die wichtigste neue Empfehlung ist, dass man nach Erreichen des ersten minimalen Zielwertes, also von 140/90mmHg, möglichst eine weitere Senkung auf <130/80mmHG anpeilen sollte – sofern dies die Betroffenen im jüngeren und mittleren Alter vertragen.

Heftige Diskussion über Zielwerte

Das ist insofern bemerkenswert, als es in den letzten Jahren weltweit heftige Diskussionen über die Zielwerte gegeben hat. In den USA haben die Expertinnen und Experten die Hypertonie-„Schranke“ für den Therapiestart auf einen Wert von 130/80mmHg gesenkt. Das brachte ihnen den Vorwurf, einen Großteil der Bevölkerung zu Hypertonie-Patienten und -Patientinnen mit medikamentösen Handlungsbedarf zu machen.

Auch in Europa wurden damals Forderungen nach einer derartigen Senkung der Zielwerte laut. „Aber nach Durchsicht der wissenschaftlichen Beweislage konnten wir uns dem nicht anschließen. Wir stehen zu einer Definition der Hypertonie, ab der eine Intervention auf jeden Fall einen Nutzen bringt, statt nichts zu tun oder gar Schaden zu verursachen“, sagte Kreutz gegenüber der Online-Plattform Medscape.

Risiko, Patientinnen und Patienten zu „verlieren“

Das Problem liegt dem Berliner Experten zufolge darin, dass bei einem Zielwert von <130mmHg die Beweislage dünner wird: „Der Nutzen wird geringer.“ Man riskiere dafür, Patientinnen und Patienten wegen der Nebenwirkungen zu verlieren. Bei Jüngeren und Fitteren werde zwar ein möglichst niedriger Blutdruck empfohlen, aber nicht unter 120mmHg systolisch.

Für die Therapie stehen Präparate aus fünf Substanz- und Wirkprinzip-Klassen zur Verfügung: ACE-Hemmer, Angiotensin-II-Rezeptorblocker, Diuretika, Beta-Blocker und Kalziumantagonisten. Von Anfang an sollte man eine Kombination von zwei dieser Wirkstoffklassen verwenden, und zwar ACE-Hemmer oder Angiotensin-II-Rezeptorblocker plus ein Thiazid-Diuretikum oder einen Kalziumantagonisten.

Gleich mit Zweier-Kombi beginnen

Reicht dies nicht aus, sollte man eine Dreifach-Kombination (z.B. plus Beta-Blocker) in Erwägung ziehen. Bei 60% der Menschen mit Hypertonie könne der Blutdruck mit einer Zweifach-Kombination unter Kontrolle gebracht werden, berichtet Kreutz, bei 90% mit einer Dreifach-Kombination, „nur ein kleiner Teil der Betroffenen benötigt vier Wirkstoffe“.

Die neue Leitlinie fordert auch vermehrt das regelmäßige Blutdruck-Messen zuhause. Der beste Zeitpunkt der Medikamenten-Einnahme sei in der Früh, da sie am Abend offenbar häufig vergessen werde. Am Nutzen der Hypertonie-Therapie gebe es keinen Zweifel: Werte <140/90mmHg könnten bei Erwachsenen 60% der Blutdruck-bedingten Komplikationen wie Herzinfarkt, Herzschwäche, Schlaganfall und Nierenschäden verhindern. Bei systolischen Werten unter 130mmHg wäre dies zu 75–80% der Fall.

Frauen durch Hypertonie stärker gefährdet

Frauen sind durch eine Hypertonie offenbar stärker gefährdet als Männer. Laut der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) sollte man bei unter 80-jährigen Frauen bereits ab einem systolischen Wert von 130mmHg Aufmerksam werden.

In der Praxis dürfte die Diskussion über neue Zielwerte aber ohnehin weniger ausschlaggebend als das Erreichen der aktuell empfohlenen Werte sein. „Wir haben ein Umsetzungsproblem“, sagt Prof. Paul Whelton von der Tulane University, New Orleans, gegenüber Medscape. Selbst in den besten Staaten würden nur rund 30% der Betroffenen die sehr konservativen Zielwerte von 140/90mmHg erreichen. In vielen Ländern liege diese Rate noch niedriger.