7. Feb. 2024Stomatherapie

„Ich kann leben mit dem Stoma und bin nicht allein“

Der künstliche Darmausgang ist teilweise immer noch ein Tabu, gerade für die ältere Generation. Doch mit Tipps, Tricks und so manchem Schmäh kann man mit dem „Sackerl“ gut leben, schildert Viszeralchirurgin und Stomaspezialistin Prim. Dr. Martina Lemmerer, MBA, FEBS, Villach, im Interview, wie man Betroffenen zur Seite stehen kann.

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Lemmerer

medonline: Welche neuesten Entwicklungen gibt es in der Stomaversorgung und wie viele Menschen betrifft das überhaupt?

Martina Lemmerer: In Österreich gibt es ca. 15.000–20.000 Stomaträgerinnen und -träger. Jährlich werden ungefähr 1.500 Dickdarm- und 700 Dünndarmstomata angelegt. Wenn man auf die Geschichte der Stomatherapie zurückblickt, so zeigt sich, dass erst 1954 in Dänemark selbstklebende Beutel mit Zinkoxid erfunden wurden, damit man Stuhl aus dem Bauch ableiten kann. Seit dieser Zeit gab es eine unglaubliche Entwicklung, heute arbeitet man mit technisch modernsten Stomaplatten und Applikationssystemen. Und man wird mit dem Stoma nicht mehr quasi im „Hinterstübchen“ versorgt, sondern es gibt mittlerweile spezialisierte Stomatherapeutinnen und -therapeuten, mit denen man als niedergelassene Ärztin bzw. niedergelassener Arzt toll zusammenarbeiten kann, genauso wie mit den Stoma-Ambulanzen in den Spitälern.

Was sind die häufigsten Komplikationen?

Es gibt frühe und späte Komplikationen sowie pflegerische Probleme. Frühkomplikationen betreffen die Anlage des Stomas und sind hochgradig von der Qualität der Chirurgie abhängig, z.B. blutet das Stoma nach oder es kommt zu einer Nekrose oder zu einem Ausriss. Dann gibt es noch die Frühkomplikation des High-Output-Stomas, wo ganz viel Flüssigkeit herauskommt. Das managt man mit Medikamenten oder Ernährung. Spätkomplikationen sind Veränderungen wie die Stomastenose, die in 3–9% der Fälle vorkommt. Das kann durch eine falsche Anwendung sein, wenn man das Loch der Stomaplatte immer zu eng schneidet. Oder das Stoma zieht sich im Laufe der Zeit zurück, wenn z.B. jemand sehr viel zunimmt oder von vornherein ein enges Stoma hat. Das passiert sehr selten, nur in 1% der Fälle. Sogenannte parastomale Herniationen haben wir leider öfter, in 15% der Fälle, oder auch einen Stomaprolaps, wo eine Art Würstel aus der Bauchdecke hervorquillt. Darum muss einerseits die chirurgische Qualität stimmen und andererseits muss die Patientin bzw. der Patient wissen: Keine Sorge, wir können das managen, z.B. mit einer anderen Stomaplatte oder mit einem Gürtel, den man dazu tragen kann. Selten muss eine Korrekturoperation durchgeführt werden. Pflegerische Komplikationen sind z.B. die sogenannte Dermatitis und das Entstehen von Granulationsgewebe. Aber auch da haben wir Tipps und Tricks, um das gut versorgen zu können.

Mit welchen Herausforderungen haben Stomapatientinnen und -patienten im Alltag zu kämpfen und wie kann man sie unterstützen?

Das Allerwichtigste neben der psychologischen Betreuung sind Schulungen wegen der immensen Umstellung, wenn man plötzlich den Stuhl oder den Urin nicht mehr in gewohnter Weise ausscheiden kann. Die Schulung während des stationären Aufenthalts und das Aufbringen der Stomaversorgungsprodukte ist die Voraussetzung, dass jemand in den Alltag zurückkehren und ihn meistern kann.

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Lemmerer

Im Alltag selbst können dann Probleme auftreten, weil das Stoma letztendlich noch immer ein Tabu ist. Daher ist es wichtig, den Patientinnen und Patienten das Gefühl der Angst und Besorgnis zu nehmen. Das Ekel- und Schamgefühl, das bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist, sind Themen, die sie nicht in der Öffentlichkeit ansprechen können. Auch der Kontrollverlust über die Ausscheidung und Verdauung, die ein Mensch ohne Schließmuskelfunktion erleidet, wo wir zusammenzwicken können. Eine ganz große Herausforderung ist die Geruchs- und Geräuschbelästigung, wovor man Angst hat.

Auch davor, im sozialen Leben oder bei sportlichen Betätigungen Einschränkungen zu erleiden. Und letztendlich sind es intime Ängste, wo es um den Verlust der körperlichen Integrität, z.B. der Sexualfunktion, geht. Da ist es entscheidend, dass sich die Hausärztin bzw. der Hausarzt mit diesen Fragestellungen beschäftigen und den Patientinnen und Patienten zeigen, dass sie ernstgenommen werden. Wenn dann Schwierigkeiten auftreten, wissen die Betroffenen, dass sie physische und psychische Unterstützung bekommen können.

Soll man denn als Hausärztin bzw. Hausarzt mögliche Probleme aktiv ansprechen?

Ich glaube, das darf man heutzutage aktiv ansprechen. Wenn man ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen und Patienten hat, kann man z.B. mit etwas Schmäh fragen: „Du, wie geht’s dir jetzt mit dem Karli, deinem Sackerl? Was tut er denn so? Pupst er herum oder folgt er dir schon?“ Mit der eigenen Sicherheit kann man den Patientinnen und Patienten gleich einmal helfen – sie merken, man kennt sich aus, weiß, worum es geht, ist mitfühlend oder aufmunternd.

Kann auch der Wechsel der Produkte ein Problem sein, z.B. wenn jemand das Sackerl nicht selbst wechseln kann?

Eigentlich nein. Wir versuchen nicht nur, unsere Patientinnen und Patienten einzuschulen, sondern auch Angehörige, Pflege- und Betreuungspersonen. Wir haben das Glück, dass unsere Stomatherapeutin DGKP Silvia Gradenegger (Kontinenz- und Stomaberaterin, Wundmanagerin, Anm.d.Red.) auch nachhause kommt.

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Lemmerer

Prim. Lemmerer mit Stoma- und Kontinenzberaterin Silva Gradenegger, DGKP

Im Raum Kärnten haben wir tolle Stomatherapeutinnen, mit denen wir sehr gut zusammenarbeiten. Die Stomatherapeutinnen schauen auch, dass die Patientinnen und Patienten alles daheim haben – es wird alles bestellt und über die Krankenkasse abgerechnet. Jeder und jede bekommt eine Stomatasche, um immer alles mitzuhaben, wenn man unterwegs oder in pflegerischer Betreuung ist.

Sie haben vorhin die Geräuschbelästigung angesprochen, wie geht man damit in Gesellschaft um?

Ich sehe das so: Jedem passiert es einmal, dass eine Flatulenz auskommt – auch im normalen Leben. Was tut man dann? Entweder man ignoriert es oder man sagt etwas. Genauso kann man Stomaträgerinnen und -träger fragen, wie sie persönlich mit dem Thema umgehen wollen, z.B. können sie in Gesellschaft sagen: „Der Karli hat sich schon wieder gemeldet, normalerweise muss er aber ganz leise sein…“ Solche Schmähs sind eine gute psychologische Möglichkeit, wie man dem Ganzen Herr wird. Es ist aber auch okay, wenn Patientinnen und Patienten nichts sagen wollen, weil ihnen das so unangenehm ist. Das Wichtigste ist die Offenheit, solche Tabus anzusprechen und eine Lösung dafür anzubieten.

Wie wichtig ist die psychologische Betreuung für Stomapatientinnen und -patienten im niedergelassenen Bereich?

Auch da ist das Vertrauensverhältnis der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu ihren Patientinnen und Patienten wichtig. Sie kennen ihre Patientinnen und Patienten sehr gut und merken, wer wirklich eine psychologische oder psychotherapeutische Betreuung braucht, insbesondere wenn es um eine Krebserkrankung geht. Das Stoma bedeutet einen Endpunkt, eine Folge einer schweren Erkrankung wie Krebs- oder auch chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED). Das heißt, die Patientinnen und Patienten brauchen in so einer Leidsituation eine Betreuung vor allem wegen der Erkrankung. Es muss nicht immer die Psychotherapie sein, es kann auch der Arzt, die Ärztin selbst sein, ebenso wie die Stomatherapeutin. Oft ist schon ein Wort von der Hausärztin bzw. vom Hausarzt wichtig, damit man sich verstanden und aufgehoben fühlt. Gerade die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind hier super aufgestellt und haben eine hohe Kompetenz.

Inwieweit ist das Leben mit einem Stoma immer noch ein Tabu in der Gesellschaft, was hat sich da verändert?

Was sich sicherlich sehr stark verändert hat, ist das Ende des Bodyshaming in den sozialen Medien. Vor allem für die jüngeren Patientinnen und Patientinnen, weil sich einige Menschen getraut haben, sich zu outen. Wir haben Stoma-Models und Fitness-Models, die das Stoma z.B. mit einem schönen bunten Sackerl beim Sport oder mit Dessous herzeigen. Aber für alte, gebrechliche Menschen ist das Stoma oft weiterhin ein großes Tabu, wenn sie auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Die Angst, am Lebensende abhängig von einer pflegerischen Versorgung zu sein, hat sich eingebrannt. Das ist nicht einfach für jemanden, der über Jahre eine körperliche Integrität erfahren hat und sich dann plötzlich umstellen muss.

Was können Ärztinnen und Ärzte tun, um dieses Tabu bei Älteren zu brechen?

Wesentlich ist, sich selbst gut zu informieren, sich gut auszukennen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu schätzen. Man muss wissen, wo die Patientinnen und Patienten betreut werden können (siehe Kasten).

Hier helfen z.B. durch die Medizinische Kontinenzgesellschaft (MKÖ), Selbsthilfe-Gruppen etc. Das ist das, was ich an Hilfestellung geben kann – und das persönliche Einstehen für das Thema. Ich z.B. bin jetzt aktiv, was Schulungen für Chirurginnen und Chirurgen betrifft, und habe auch eine ganz liebe Patientin (siehe Foto), die sich für einen Vortrag fotografieren ließ und sagt: „Natürlich mache ich da mit, weil ich das unterstützen will.“

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Lemmerer

Kontrolle in der Ambulanz: Prim. Lemmerer mit ihrer Stomapatientin, die ein praktisches Tascherl und den Stomabeutel in Händen hält.

Wie sieht die ideale interdisziplinäre Zusammenarbeit für Stomapatientinnen und -patienten aus?

Das hat sich in den Spitälern im Laufe der letzten 20 Jahre auch sehr verändert: Ideal ist es, ein Team zu sein und in der interdisziplinären Zusammenarbeit für jede Patientin und jeden Patienten das Bestmögliche zu schaffen, damit es ihr oder ihm gut geht. Das Zusammenspiel zwischen Chirurgie, Gastroenterologie, der Stoma-Ambulanz etc. bei regelmäßig durchgeführten onkologischen Besprechungen oder CED-Boards ist entscheidend. Und es wird sicher wichtiger werden, dass wir noch mehr Verbindungen vom intramuralen, klinisch-stationären Bereich zum extramuralen Bereich schaffen können. Da sehe ich das Bindeglied in unseren Stomaspezialistinnen und -spezialisten, die im niedergelassenen Bereich tätig sind. Kärnten ist ein besonders herausragendes Beispiel dafür: Im Team sind die Chirurgie, die Gastroenterologie, die Diplompflege auf der Station, die Diätologie, weil sie die verschiedenen Ernährungstipps für die Verbesserung der Stuhlqualität gibt, die Hauskrankenpflege mit den Angehörigen und der Familie, die Hausärztinnen und Hausärzte und eben die Stomatherapeutinnen selbst. Auch die engagierten Selbsthilfegruppen und natürlich die MKÖ – alle arbeiten zusammen.

Gibt es spezielle Ernährungsempfehlungen, die auch Hausärztinnen und Hausärzte ihren Stomapatientinnen und -patienten geben sollten?

Ja, dazu gehört, dass man darüber Bescheid weiß, was der Dünn- oder Dickdarm normalerweise tut und wie er sich verhält, wenn ein Stoma da ist. Der menschliche Körper produziert jeden Tag ca. 2l Dünndarmstuhl, der im Dickdarm eingedickt wird, und am Ende werden nur etwa 200g ausgeschieden. Das heißt, bei einem Dünndarmseitenausgang können bis zu 2l Stuhl kontinuierlich herausrinnen, was aber rasch immer besser wird, da die Stuhlflüssigkeit kontinuierlich eingedickt wird und sich schrittweise verringert. Das kann man mit Ernährung beeinflussen – so wie bei einer Durchfallerkrankung: Ich kann Schwarzbeeren kauen, Flohsamen nehmen oder ein Medikament. Beim Dickdarmstoma wird nicht so viel Flüssigkeit herauskommen, aber die Frage ist: Kommt der Stuhl regelmäßig oder nicht? Und wenn ja, kann ich damit umgehen? Die Schulung der Patientinnen und Patientinnen ist ganz wichtig, aber auch die Hausärztinnen und Hausärzte sollten über die Stomaphysiologie Bescheid wissen. Einen Entlassungsfolder haben wir schon, damit die Patientinnen und Patienten auch im Ernährungsmanagement gut beraten sind und für zuhause Informationen in Händen halten.

Was ist der wichtigste Rat, den Ärztinnen und Ärzte über die Lebensumstellung geben können, die ein Stoma mit sich bringt?

Ich glaube, das Allerwichtigste ist Vertrauen. Darauf, dass die Operation gutgeht, und darauf, dass ich auch im Notfall gut betreut werde – das sollen die Chirurginnen und Chirurgen vermitteln können. Das Vertrauen soll immer mit einer hochqualifizierten Kompetenz gepaart sein, denn das Stoma ist keine Anfängeroperation. Das andere ist, das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in sich selbst aufzubauen: „Ich schaffe es, damit zurechtzukommen. Denn ich kann weiterleben, ich kann leben mit dem Stoma und ich bin nicht allein.“ Das ist ein ganz wichtiges Schlagwort für Hausärztinnen und Hausärzte und schließt den Kreis zu Selbsthilfegruppen. Wir können vermitteln: „Wissen Sie, ich kenne da jemanden, der auch ein Stoma hat und super damit zurechtkommt, da stellen wir einen Kontakt her.“ Also, der wichtigste Rat an die Patientinnen und Patienten ist das Vertrauen in die Therapie und das Vertrauen in sich selbst!

Danke für das Gespräch!

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Humanomed

Prim. Dr. Martina Lemmerer, MBA, FEBS, Fachärztin für Allgemein- und Viszeralchirurgie, leitet die Abteilung für Chirurgie der Privatklinik Villach

Leben mit Stoma: Hilfreiche Adressen

MKÖ – Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich: https://kontinenzgesellschaft.at/

Selbsthilfegruppen – Kontinenz- und Stomaberatung Österreich: https://www.kontinenz-stoma.at/kontakt/selbsthilfegruppen/#1507795217445-64060320-2ced

Österreichische ILCO – Stoma-Dachverband (Interessensgemeinschaft der regionalen SH-Gruppen): https://www.ilco.at/