16. Okt. 2023Fehlendes Bewusstsein

DGIM 2023: Auch bei Älteren an HIV-Infektionen denken

40 Jahre nach ihrer Entdeckung sind HIV-Infektionen bei Menschen beherrschbar geworden. Bleiben sie unerkannt, verliert sich jedoch der Vorteil, dass sich die Viruslast unter die Nachweisgrenze senken lässt und in der Folge keine Ansteckungsgefahr mehr besteht. Ohne den Abbau von Stigma und Diskriminierung wird sich die Testbereitschaft allerdings nicht bessern.

Concept conceptual large community of people forming the image of breast cancer symbol. 3d illustration metaphor for awareness, solidarity, life, prevention, support, help and cure
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Durch die Entwicklung von antiretroviralen HIV-Therapien (ART) sowie Prä- und Postexpositionsprophylaxen sinkt die Zahl der HIV-Neuinfektionen. „Im Grunde genommen haben wir das Werkzeug, um die HIV-Epidemie zu beenden“, betonte Prof. Dr. Jürgen Rockstroh von der Ambulanz für Infektiologie und Immunologie am Universitätsklinikum Bonn bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Wiesbaden. Denn Infizierte sind, wenn sie durch die ART die Nachweisgrenze unterschreiten, nicht mehr ansteckend. Doch auch 2021 gab es in Deutschland noch 1.800 Neuinfektionen und die aktuelle gesellschaftliche wie auch weltpolitische Lage trägt eher nicht zum Ende von HIV bei (siehe Kasten).

Viel Zeit, in der Infizierte das Virus weitertragen können

Als Motor der Neuansteckungen bezeichnete Rockstroh die oft späte Diagnose. Bei jedem zweiten HIV-positiven Menschen in Europa lag die CD4-Zellzahl bei Diagnose bereits unter 350/mm³. Folglich bestand ein sehr langer Zeitraum, in dem Mitmenschen unwissentlich angesteckt werden konnten.

Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), bilden zwar weiterhin die größte Risikogruppe, bei ihnen zeigt sich aber der deutlichste Rückgang der Infektionszahlen. Das verdeutlicht den Effekt von Prävention und Aufklärung . Die Infektionszahlen steigen dagegen vor allem bei Drogensüchtigen und Heterosexuellen. Eine Gruppe, der wenig Beachtung geschenkt wird und in der oft das Bewusstsein fehlt, ist die der heterosexuellen Älteren. „Auch ältere Menschen haben Sex“, erinnerte Rockstroh, doch diese nehmen sich kaum als HIV-risikobelastet wahr: Sie testen sich wenig und werden daher zu einem noch höheren Anteil erst spät diagnostiziert.

Obwohl man also die für 2020 gesteckten HIV-Ziele 90-90-90 (90% diagnostiziert, 90% davon therapiert, davon wiederum 90% unter der Nachweisgrenze) bei Therapieangebot und -erfolg mit ca. 96% mehr als erreicht hat, bleibt der 90%-Anteil hinsichtlich der Testung bzw. Diagnose ein Wackelkandidat.

Einverständnis am besten dokumentieren

Die Testquote zu verbessern, gestaltet sich allerdings schwierig. HIV-Infektion und AIDS sind auch noch im Jahr 2023 Dinge, die emotionalisieren und stigmatisieren, erklärte der Referent. Will man auf HIV testen, befindet man sich in Deutschland auch in einer besonderen rechtlichen Situation: Der Patient bzw. die Patientin muss dem Test explizit zustimmen. Ein Test gegen den Willen gilt als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und kann rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Es muss kein schriftliches Einverständnis vorliegen, Rockstroh riet allerdings, die Einwilligung zu dokumentieren. Persönlich sieht der Experte die Rechtslage kritisch, weil sie eine zusätzliche Hürde für die Testung schafft. Dass man den Test gegenüber Patientinnen und Patienten explizit vorschlagen und gegebenenfalls rechtfertigen muss, sorgt unter Umständen bereits für eine unangenehme Atmosphäre im Sprechzimmer.

Insbesondere beim Auftreten typischer Symptome (z.B. unklare Thrombopenie, Haarleukoplakie) oder bei der Diagnose einer Indikatorerkrankung sollte man sich laut Rockstroh nicht um eine Sexualanamnese drücken und einen HIV-Test anbieten.

„Das ist jedoch etwas, was im Alltag eben nicht unbedingt passiert“, fügte er hinzu. Dabei sei es erstaunlich, welche Begründungen Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten manchmal anführen, um solche Gesprächssituationen zu umgehen.

HIV in schwierigen Zeiten

Die Coronapandemie mit ihren Folgen ist eine deutliche Hürde, die es im Kampf gegen HIV zu überwinden gilt. Da während der Pandemie Testzentren schließen mussten, hat sich die Lage hinsichtlich bereitgestellter Therapien und der Testangebote extrem verschlechtert. Hinzu kommt die derzeitige weltpolitische Lage mit Kriegen und Flüchtlingsströmen, die dazu führt, dass zumindest statistisch gesehen die Zahlen dieses Jahr vermutlich steigen werden. Denn viele geflüchtete HIV-Patientinnen und -Patienten z.B. aus der Ukraine werden dann erstmals in die deutsche Statistik eingerechnet werden. Zusätzlich verhindern in Ländern wie Polen und Russland die Stigmatisierung und die Verfolgung der queeren Bevölkerung, dass diese vulnerable Gruppe Präventions-, Test- oder Therapieangebote wahrnehmen kann. Dadurch ist die Inzidenz dort weiterhin hoch. Spritzen- und Substitutionsprogramme sind in vielen europäischen Ländern limitiert. Außerdem werden i.v. Drogensüchtige oft erst spät diagnostiziert, weil in ihrem Leben meist andere Dinge höhere Priorität haben, als sich aktiv auf HIV testen zu lassen.

Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Wiesbaden, 22.–25.4.23

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum derma