11. Juni 2025medonline Medizingeschichte #50

„Ehrlich färbt am längsten“ – Paul Ehrlich

Wie der Sohn eines Likörfabrikanten und königlichen Lotterie-Einnehmers zu einem Wegbereiter der modernen Medizin und Pharmakologie wurde.

Paul Ehrlich in seinem Arbeitszimmer im Frankfurter Georg-Speyer-Haus, 1910.
Public Domain/wikimedia
Paul Ehrlich in seinem Arbeitszimmer im Frankfurter Georg-Speyer-Haus, 1910.

Paul Ehrlich wird am 14. März 1854 in Strehlen in der Provinz Schlesien im heutigen Polen in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. Sein Vater Ismar ist Likörfabrikant, königlicher Lotterie-Einnehmer in Strehlen und mit Rosa, geborene Weigert, verheiratet. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Nach dem Besuch der Volksschule in Strehlen besucht Paul das renommierte Maria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau. Im Rückblick beschreibt Ehrlich die Schule als „drückende Last“. Schon als Jugendlicher fasziniert ihn jedoch das Färben mikroskopischer Gewebeschnitte, die sein Cousin mütterlicherseits, der bekannte Pathologe Carl Weigert, vorbereitet.

Wissenschaftliche Grundlagen eines medizinischen Visionärs

Zwischen 1872 und 1877 studiert Paul Ehrlich Medizin an den Universitäten Breslau, Straßburg und Freiburg. 1878 promoviert er in Leipzig, wohin er seinem Doktorvater Julius Cohnheim gefolgt war. Obwohl er zum Arzt ausgebildet wird, begeistert sich Ehrlich vor allem für Laborarbeit und das Färben von Gewebeproben und Blutleukozyten. In einer Mischung aus Spott und Anerkennung etabliert sich unter seinen Kommilitonen die Redensart „Ehrlich färbt am längsten“.

Paul Ehrlich beobachtet, dass unterschiedliche Farbstoffe von verschiedenen Zellen und Geweben unterschiedlich aufgenommen werden, und schließt daraus, dass spezifische Affinitäten zwischen biologischen Strukturen und den verwendeten Farbstoffen bestehen müssen. Ein Meilenstein in den Neurowissenschaften ist seine Entdeckung, dass nach intravenöser Injektion wasserlösliche Farbstoffe fast alle Gewebe färben – mit Ausnahme von Gehirn und Rückenmark. Diese Beobachtung führt zur Entdeckung der Blut-Hirn-Schranke.

Mit seinen Färbetechniken macht der Student Ehrlich Zellen und Krankheitserreger unter dem Mikroskop sichtbar und entwickelt dabei unter anderem ein diagnostisches Verfahren zur Differenzierung weißer Blutkörperchen. Im Rahmen seiner Dissertation entdeckt der 23-jährige die Mastzellen – auch wenn ihm deren Bedeutung um das Immunsystem noch nicht bekannt ist.

Nach dem Studium ist Ehrlich zuerst als Assistent, später als Oberarzt an der Charité in Berlin unter Theodor Frerichs, dem Begründer der experimentellen klinischen Medizin, tätig und beschäftigt sich mit Histologie, Hämatologie und der Farbenchemie. 1882 wird ihm der Professorentitel verliehen.

1883 heiratet er in der Synagoge von Neustadt in Oberschlesien Hedwig Pinkus, die Tochter eines schlesischen Textilfabrikanten, mit der er in einer für die Zeit sehr untypischen, gleichberechtigten Partnerschaft lebt. Das Vermögen der Familie seiner Frau ermöglicht es Ehrlich fortan, sich ohne Rücksicht auf ökonomische Erwägungen auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren zu können.

Innovationen in Immunologie, Hämatologie und Chemotherapie

1889 lässt sich Paul Ehrlich in Berlin nieder und gründet eine Praxis, in der er auch ein kleines Labor betreibt. Die Friedrich-Wilhelms-Universität beruft ihn im Jahr 1890 zum außerordentlichen Professor. 1891 folgt er dem Ruf von Robert Koch an dessen Institut für Infektionskrankheiten, wo er sich zwischen 1892 und 1896 insbesondere auf immunologische Fragestellungen konzentriert. Um dieser vitalen, neuen Forschungsrichtung adäquate Ressourcen und Ehrlich ein Umfeld zur Verfügung zu stellen, in dem er sein innovatives Potential voll ausschöpfen kann, wird 1896 das Institut für Serumforschung und Serumprüfung in Steglitz bei Berlin etabliert und er selbst zu dessen Gründungsdirektor berufen.

Paul Ehrlich in einer undatierten Aufnahme aus der Zeit vor 1916.
Public Domain/wikimedia

Paul Ehrlich in einer undatierten Aufnahme.

1899 wird das Institut nach Frankfurt am Main verlegt und in Königliches Institut für experimentelle Therapie umbenannt. 1906 übernimmt Ehrlich die Leitung des Georg-Speyer-Hauses, eines Instituts für chemotherapeutische Forschung in Frankfurt.

1907, inzwischen mit dem nur selten gewährten Titel eines Geheimen Obermedizinalrats ausgestattet, geht Ehrlich eine für diese Zeit unübliche Kooperation mit den Farbwerken Hoechst ein, im Rahmen derer alle Forschungsergebnisse seines Instituts dem Industriebetrieb zur Nutzung überlassen werden. Im Gegenzug dazu stellt dieser dem Forschungsinstitut 30 Prozent aller Gewinne zur Verfügung. 1908 wird er, gemeinsam mit dem russischen Forscher Ilja Metschnikow, für ihre grundlegenden Erkenntnisse über immunologische Abwehrmechanismen mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Ehrlich propagiert dabei eine „molekulare Serumtheorie“, während Metchnikow eine „Zell-Phagozytose-Theorie“ vertritt – zwei komplementäre Konzepte, die später zur Grundlage der humoralen und zellulären Immunologie werden. Paul Ehrlich ist damit am Höhepunkt seiner Forschungskarriere angelangt.

In den folgenden Jahren wird Ehrlich zum Mitglied in vielen bedeutenden internationalen Fachgesellschaften berufen und mit nationalen und internationalen Wissenschaftspreisen ausgezeichnet. Die neu gegründete Frankfurter Universität beruft ihn 1914 zum ordentlichen Professor für Pharmakologie, was er akzeptiert. Ehrlich stellt zuvor aber sicher, dass sein Georg-Speyer-Haus nicht in die Universität eingegliedert wird und unabhängig bleibt.

Am 17. August 1915 erleidet Paul Ehrlich im Alter von 61 Jahren einen Herzinfarkt, dessen Folgen er drei Tage später erliegt. In seinem Beileidstelegramm an die Witwe, schreibt Kaiser Wilhelm II:

Ich beklage mit der gesamten gebildeten Welt den Tod dieses um die medizinische Wissenschaft und die leidende Menschheit so hochverdienten Forschers, dessen Lebenswerk ihm bei der Mit- und Nachwelt unvergänglichen Ruhm und Dank sichert.

Meilensteine der modernen Medizin und Pharmakologie

Ehrlichs Vermächtnis als Forscher ist so weitreichend wie tiefgreifend und zeichnet sich durch sein einzigartiges Verständnis chemischer Prinzipien und der Idee spezifischer molekularer Interaktionen in biologischen Systemen aus. Von ihm stammen die Grundlagen der modernen Hämatologie und Immunologie und wesentliche Beiträge zur Mikrobiologie und der Klassifikation verschiedener Mikroorganismen. Grundlage dieser Beobachtungen ist sein außergewöhnliches Talent, fortschrittliche Färbetechniken zu entwickeln und auf verschiedene Zelltypen und Organismen anzuwenden. Weiters entwickelt Ehrlich neue Konzepte, die bestimmte färberische Eigenschaften von Zellen mit dem Vorhandensein spezifischer Rezeptoren und Moleküle verknüpfen. Besonders bekannt wird seine Seitenkettentheorie von 1897 und das daraus entwickelte Rezeptor-Ligand-Konzept. Er engagiert sich intensiv im Bereich der passiven Immuntherapie, trägt maßgeblich zur Entwicklung eines wirksamen Antiserums gegen Diphtherie bei und etabliert die Herstellung standardisierter therapeutischer Serumfraktionen. Seine erfolgreiche Standardisierung biologisch aktiver Substanzen stellt einen großen Durchbruch dar, der nicht nur die Entwicklung der Immuntherapie unterstützt, sondern auch die Grundlage für die standardisierte Produktion biologisch aktiver Medikamente in anderen Bereichen der Medizin legt.

Schließlich überführt Ehrlich seine theoretischen und praktischen Erkenntnisse in therapeutische Konzepte. Sein Ziel ist es, gezielt wirkende Medikamente für Patientinnen und Patienten zu synthetisieren. Nach langjähriger experimenteller Arbeit, Tierversuchen und vielen Rückschlägen gelingt ihm, eine erste Serie erfolgreicher synthetischer Medikamente herzustellen – das bekannteste Beispiel ist Salvarsan®, mit dessen Einführung 1909 ein gewaltiger Durchbruch und ein Triumph der synthetischen Arzneimittelentwicklung gelingt. Auf Ehrlichs Überzeugung, dass viele weitere Medikamente gezielt gegen Mikroben oder sogar gegen Krebszellen entwickelt werden können, und seiner Forschung zu den therapeutischen Grenzen, wie etwa Resistenzbildung und Toxizität, fußen viele der Grundlagen der modernen Medizin.

Trotz seiner Entdeckungen und der vielen Auszeichnungen kämpft Paul Ehrlich Zeit seines Lebens gegen Vorurteile, Neid und Ignoranz. Er muss viel Überzeugungsarbeit leisten, um die wissenschaftliche Gemeinschaft und die Öffentlichkeit von der Bedeutung seiner Konzepte und Anwendungen für die Patientenversorgung zu überzeugen. 1912 und 1913 wird er erneut für den Nobelpreis vorgeschlagen – diesmal für seine Beiträge zur Chemotherapie. Eine Auszeichnung für Salvarsan® als erste „synthetische Chemotherapie“ (gezieltes Medikament) bleibt jedoch aus, da die Zeit für ein solches Konzept damals noch nicht reif ist.

Paul Ehrlichs Beiträge zur Wissenschaft ebnen aber zweifellos den Weg in eine neue Ära der Medizin, in der zelluläre Eigenschaften und Funktionen mit spezifischen Molekülen verknüpft werden und auf mechanistischen und molekularen Einsichten basierende translationale Konzepte entwickelt werden. Seine wegweisenden Arbeiten und die seiner Kollegen führen zur Entstehung und Fundierung der modernen Chemie, Hämatologie, Immunologie, Chemotherapie, Pharmakologie und Onkologie. Das Konzept der gezielten Wirkstoffentwicklung und die weltweite Standardisierung diagnostischer und therapeutischer Verfahren basieren maßgeblich auf der bahnbrechenden Arbeit Paul Ehrlichs.