4. Okt. 2024medonline Medizingeschichte #33

„Falsche Sentimentalität ist hier nicht am Platz“ – Marianne Türk am Spiegelgrund

Marianne Türk wird am 31. Mai 1914 in Wien als Kind des Zollbeamten Franz Türk und seiner Frau Adelheid (Elder) Türk geboren.

Luftaufnahme des Spitals Wien Steinhof.
Foto: Walter Mitterholzer via Wikimedia

Der Vater stirbt noch im Oktober desselben Jahres als Soldat im Ersten Weltkrieg. Ihre Tochter unter den Umständen des Krieges allein großzuziehen ist für Mutter und Kind von großen Herausforderungen und Entbehrungen verbunden, was für beide nicht ohne gesundheitliche Folgen bleiben wird.

So leidet Marianne schon als Kind an einem chronischen Magengeschwür und einem chronischen Magenkatarrh. Im Alter von 9 Jahren erkrankt sie an Lungentuberkulose, was mehrmalige Aufenthalte in Heilanstalten notwendig macht. Im Alter von 17 Jahren muss sie sich einer Magenoperation unterziehen, bei der ein Bypass zwischen Magen und Dünndarm eingesetzt wird, um den erkrankten Teil des Magens zu umgehen.

Marianne Türks Weg zur Medizinerin

Trotz dieser chronischen gesundheitlichen Probleme schließt Marianne Türk 1933 das Realgymnasium in Wien Hernals mit der Matura ab und beginnt im Wintersemester 1933/34 in Wien Medizin zu studieren. Zu diesem Zeitpunkt sind 690 Frauen in diesem Fach in Wien inskribiert (siehe auch medonline-Medizingeschichte #18 über Gabriele Possanner von Ehrenthal).

Mit den verfügbaren Mitteln aus der Beamtenpension des Vaters ist es Mariannes Mutter kein Leichtes, der Tochter das Studium zu finanzieren. Wohl nicht zuletzt deshalb erweist sie sich als strebsame Studentin und kann sich ab dem Wintersemester 1934/35 ein Stipendium der Stadt Wien sichern. Seit 1928 wird an der Universität Wien im Zuge der Inskription die „nationale Zugehörigkeit“ abgefragt. Zu Beginn ihres Studiums gibt Marianne hier Österreich an, ab dem Sommersemester 1935 jedoch „Deutsch“. Sie absolviert das Studium in der Mindestdauer und promoviert am Ende ihres elften Semesters.

Während Marianne Türk in der Nachkriegszeit betont, dass der Wunsch, Kinderärztin zu werden, der Grund für ihr Studium der Medizin war, lässt sich das in der Wahl ihrer Lehrveranstaltungen nicht nachvollziehen. Im Fach Kinderheilkunde absolviert sie die vorgeschriebene Anzahl von Wochenstunden. In den anatomischen Fächern Anatomie, pathologische Anatomie, den Sezierübungen und Histologie belegt sie insgesamt 106 Wochenstunden, von denen nur 16 verpflichtend sind. Rund die Hälfte dieser Wochenstunden belegt sie bei Prof. Eduard Pernkopf, dem Vorstand des II. Anatomischen Instituts, einem glühenden illegalen Nationalsozialisten.

Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“

Nur 12 Tage nachdem Türk ihr Studium abgeschlossen hat, tritt sie ihren Dienst in der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ als Aushilfs-Anstaltsärztin an. Ohne Mitgliedschaft in oder Protektion aus der NSDAP gelingt ihr das wohl auch deshalb, weil aufgrund der vielen aus rassischen oder politischen Motiven aus ihren Verwendungen entfernten oder emigrierten Mediziner ein akuter Ärztemangel herrscht.

Zu Beginn arbeitet sie in der sogenannten Trinkerheilstätte der Anstalt im 14. Wiener Gemeindebezirk und in einem psychiatrischen Pavillon. 1940 wechselt sie gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten, dem Arzt Dr. Erwin Jekelius, an die neu etablierte „Wiener Städtische Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund“.

Jekelius wird am 20. Juni 1940 zum Leiter des Referats „Geisteskranken-, Psychopathen- und Süchtigenfürsorge“ im Hauptgesundheits- und Sozialamt der Stadt Wien ernannt. Neben dem Dozenten Hans Bertha ist er einer von zwei Gutachtern, die in der Ostmark für das T4-Euthanasieprogramm zuständig sind und über Leben und Tod ihrer Opfer entscheiden. Außerdem ist er als einer von 30 Experten am Entstehen des Euthanasiegesetzes beteiligt.

Im Rahmen seines Einführungsvortrags zur Gründung der Deutschen Vereinigung für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in Wien am 5. September 1940 macht Jekelius klar, welche Geisteshaltung in seiner Anstalt vorherrschen wird:

"Falsche Sentimentalität ist hier nicht am Platz. […] wenn wir in unseren Sonderanstalten diesen Ballast mitschleppen, der den ganzen Betrieb behindert, […] Ein solches Kind gehört in keine Erziehungs- oder Heilanstalt, sondern in Bewahrung, wobei für mich persönlich die Bewahrung der Volksgemeinschaft vor diesen unglückseligen Geschöpfen im Vordergrund steht."*

Nachdem sich Türk über weite Teile ihres Studiums dem Einfluss des glühenden NS-Rassehygienikers Pernkopf ausgesetzt hat, etabliert sie gleich zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn ein Naheverhältnis zu einem der vorrangigen Euthanasiebefürworter Nazideutschlands.

Marianne Türks Rolle im nationalsozialistischen "Euthanasie-Programm"

Am Spiegelgrund, auf der Baumgartner Höhe im 14. Wiener Gemeindebezirk, bewohnt Marianne Türk gemeinsam mit ihrer Mutter eine großzügige Dienstwohnung am Anstaltsgelände, während sich nebenan schwer zu fassende Grausamkeiten abspielen.

Anstaltsleiter Jekelius, sein Nachfolger Dr. Ernst Illing sowie Dr. Heinrich Gross, Dr. Margarete Hübsch und Türk untersuchen ihnen ausgelieferte Kinder mit zum Teil qualvollen Methoden und machen Meldung an das T4-Programm, wenn sie nach der perversen Logik der nationalsozialistischen Ideologie für eine Tötung infrage kommen. Dann entscheiden Gutachter eines sogenannten Reichsausschusses über ihr Schicksal. Wird die Ermordung der Kinder beschlossen, dann werden sie mit hochdosierten Schlafmitteln langsam vergiftet, bis sie an Lungenentzündung oder einer anderen Infektionskrankheit sterben. Einige werden für tödliche Experimente missbraucht: So testet Dr. Elmar Türk von der Universitäts-Kinderklinik an ihnen einen Impfstoff gegen Tuberkulose. Mindestens 798 Kinder fallen diesem Wahnsinn zwischen 1940 und 1945 zum Opfer.

Prozess, Haft und Rehabilitation

Nach Kriegsende wird Marianne Türk verhaftet, sie erhält beim Wiener Volksgerichtsprozess eine 10-jährige Haftstrafe und verliert ihren Doktortitel. Während ihrer Vernehmungen im Zuge des Prozesses stimmt sie in den allzu bekannten Kanon der Nazi-Apologetik nach dem Untergang von Hitlers Tausendjährigem Reich ein. Dass all ihre Handlungen vom Recht des Unrechtsstaats gedeckt waren. Dass sie sich den Anweisungen ihrer Vorgesetzten nicht widersetzen konnte. Dass sie sich nicht auf diese Dienststelle beworben hätte, hätte sie gewusst, was sich dort zuträgt. Wie sehr sie ihre Taten psychisch belastet hätten, gleichwohl sie keinen Weg gesehen hat, sich ihrer Tätigkeit zu entziehen.

Dr. Margarethe Hübsch (2. v.l.), Dr. Marianne Türk (4. v.l.) und Dr. Ernst Illing (r.) auf der Anklagebank während ihrem Prozess vor dem Wiener Volksgericht am 15. Juli 1946.
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Aus „Neues Österreich“ vom 16. Juli 1946: Dr. Margarethe Hübsch (2. v.l.), Dr. Marianne Türk (4. v.l.) und Dr. Ernst Illing (r.) auf der Anklagebank während ihrem Prozess vor dem Wiener Volksgericht am 15. Juli 1946.

1948 wird sie wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes für haftunfähig erklärt und ihre Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. 1952 erlässt ihr Bundespräsident Theodor Körner den Rest ihrer Strafe. 1957 wird sie mit Beschluss des Professorenkollegiums der Universität Wien rehabilitiert und erhält ihren akademischen Grad zurück. In die Medizin geht Marianne Türk nicht mehr zurück und arbeitet stattdessen als Verkäuferin in einer Kräuterhandlung. Nach einem viel längeren Leben, als es ihren Opfern vergönnt war, stirbt sie im Jänner 2003 in Wien und wird am Jedleseer Friedhof bestattet.

* Herwig Czech, Erfassung, Selektion und „Ausmerze“. Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ 1938 bis 1946. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Publikationsreihe des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Band 41 (Wien 2003) S. 96.