14. Juni 2024medonline Medizingeschichte #25

United States of America v. Karl Brandt, et al. – Der Nürnberger Ärzteprozess

Nürnberg ist Ende 1946 ein Trümmerfeld. Die Stadt der Reichsparteitage und der berüchtigten Nürnberger Gesetze ist von alliierten Bombenangriffen dem Erdboden gleichgemacht. Für die Einwohner der Stadt stellt das tägliche Überleben in dieser Umgebung eine kaum zu bewältigende Herausforderung dar.

Karl Brandt SS-Arzt
United States Holocaust Memorial Museum
Karl Brandt als Angeklagter im Nürnberger Ärzteprozess.

Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

Die Siegerkoalition des Zweiten Weltkriegs hat es sich aber zur Aufgabe gemacht, ihr Internationales Militärtribunal (IMT) gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Staates in Nürnberg abzuhalten. Zu diesem Zweck wurde der Nürnberger Justizpalast grundlegend adaptiert und dafür ausgestattet, zwischen 20.11.1945 und 1.10.1946 den 4-sprachig simultan übersetzten Prozess gegen 24 Angeklagte vor einer internationalen Medienöffentlichkeit durchzuführen.

Doch im Winter 1946 sind die Beziehungen zwischen den Westalliierten und der UdSSR merklich abgekühlt und es konstituiert sich endgültig, was George Orwell schon ein Jahr zuvor als Cold War bezeichnet hat.* Unter diesen Umständen werden die sogenannten Nachfolgeprozesse nicht mehr vor dem IMT verhandelt, sondern vor US-Militärgerichten. Der erste von diesen ist United States of America v. Karl Brandt, et al., der sogenannte Ärzteprozess, Prozessbeginn ist der 9.12.1946.

Der Nürnberger Ärzteprozess

Brandt, der namensgebende Mediziner, ist ehemaliger SS-Offizier, Begleitarzt Hitlers und Reichsbevollmächtigter für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Neben ihm sind 19 Mediziner und 3 Verwaltungsbeamte aus SS, Wehrmacht und dem Nazi-Staat angeklagt. Ihnen allen wird die Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ihre Mitgliedschaft in kriminellen Organisationen zur Last gelegt.

Eine schematische Darstellung der "medizinischen Befehlskette" im nationalsozialistischen Deutschland, welche als Beweisstück für den Nürnberger Ärzteprozess angefertigt wurde.
National Archives and Records Administration

Eine schematische Darstellung der "medizinischen Befehlskette" im nationalsozialistischen Deutschland, welche als Beweisstück für den Nürnberger Ärzteprozess angefertigt wurde.

Der Katalog der Grausamkeiten, die den Angeklagten vorgeworfen wird, legt die ganze Menschenverachtung bloß, die seitens der nationalsozialistischen Ideologie – und der nationalsozialistischen Ärzteschaft – all jenen entgegengebracht wird, die nicht ihrer Fieberfantasie von der Arischen Rasse entsprechen.

Ein Pandämonium der Unmenschlichkeit

Dazu gehört die heimliche Ermordung alter, geistig und körperlich beeinträchtigter und unheilbar kranker Menschen im Rahmen des sogenannten T4-Programms und die massenhafte Sterilisierung von als feindlich wahrgenommenen Bevölkerungen.

In verschiedenen Konzentrationslagern wurde eine Reihe von Experimenten durchgeführt, die Erkenntnisse für die Behandlung von Soldaten der Wehrmacht im Krieg bringen sollten. Dazu wurden Gefangene dauerhafter Unterkühlung ausgesetzt, in Unterdruck-Kammern gesperrt, um die Auswirkungen von Flügen in großer Höhe zu simulieren, und gezwungen, ausschließlich Meerwasser zu trinken.

Courtroom_during_the_Doctors’_trial
Public Domain/Wikimedia

Der Gerichtssaal im Justizpalast in Nürnberg. Hier hatte zwischen 1945 und 1946 schon der Prozess des Internationalen Militärtribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher stattgefunden.

Sie wurden Hepatitisviren, Fleckfieber, Malaria, Typhus und Giftgasen ausgesetzt, um die Behandlung dieser Erkrankungen und Substanzen zu erproben, und mit Phosphor verbrannt, um die Wirkung von Brandbomben zu simulieren. Ihnen wurden Verwundungen zugefügt und dann Infektionen provoziert, um deren Behandlung zu erproben. Insgesamt fallen diesem Pandämonium der Unmenschlichkeit hunderttausende Menschen zum Opfer.

Zeugen, darunter Überlebende der Konzentrationslager, berichten von den unsäglichen Qualen, die sie erleiden mussten. Die Anklage legt in der Folge dar, dass diese Experimente nicht nur weitgehend wissenschaftlich wertlos waren, sondern mitunter auch aus purer Grausamkeit und rassistischen Motiven durchgeführt wurden. Die Verteidigung versucht zu argumentieren, dass die Angeklagten nur Befehle ausgeführt hätten und dass ihre Handlungen im Rahmen kriegsbedingter Notwendigkeiten gerechtfertigt gewesen seien. Diese Argumente werden aber weitgehend zurückgewiesen.

Die Urteile und der Nürnberger Kodex

Am 20.8.1947 endet der Nürnberger Ärzteprozess nach 139 Verhandlungstagen. 7 Angeklagte, darunter auch Karl Brandt, werden zum Tod durch den Strang verurteilt und in der Folge am 2.6.1948 hingerichtet. 9 werden zu Haftstrafen zwischen 10 Jahren und lebenslänglich verurteilt und 7 der Angeklagten werden freigesprochen. Unter den Bedingungen der sich rapide verschärfenden Blockkonfrontation erhofft die angloamerikanische Seite jedoch das Wohlwollen der ehemaligen oder krypto-nationalsozialistischen Nachkriegsdeutschen. So werden alle ausgesprochenen Haftstrafen in der Folge massiv reduziert und alle Verurteilten zwischen 1951 und 1955 freigelassen.

Das wichtigste Erbe des Nürnberger Ärzteprozesses stellt heute der Nürnberger Kodex dar, die ethische Richtlinie zur Vorbereitung und Durchführung medizinischer, psychologischer und anderer Experimente am Menschen. Sie zieht einen Trennstrich zwischen legitimen Experimenten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Kodex gehört zum internationalen Recht und ist international gültig.

Der Nürnberger Kodex von 1947

  1. Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.
  2. Der Versuch muss so gestaltet sein, dass fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich oder überflüssig sein.
  3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen, dass die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen werden.
  4. Der Versuch ist so auszuführen, dass alles unnötige körperliche und seelische Leiden und Schädigungen vermieden werden.
  5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug angenommen werden kann, dass es zum Tod oder einem dauernden Schaden führen wird, höchstens jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient.
  6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.
  7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.
  8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen Stufen des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder durchführen.
  9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.
  10. Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten muss, dass eine Fortsetzung des Versuches eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.

Quellen: