17. Mai 2024medonline Medizingeschichte #23

Die Ursprünge der Spanischen Grippe … in Amerika

Im Jänner 1918 bemerkt Loring Miner, Landarzt und Gerichtsmediziner in Haskell County, Kansas, dass sich ein grippeartiges Virus rapide unter seinen Patienten ausbreitet. Es verursacht eine in ihrer Geschwindigkeit bis dahin nicht gesehene Verschlechterung des Gesundheitszustandes und führt zum Tod von Menschen, die zuvor keine gesundheitlichen Beschwerden hatten.

Ein Notlazarett in Fort Reiley, Kansas während der Influenza-Epidemie 1918.
National Museum of Health and Medicine/Wikimedia Commons
Ein improvisiertes Notlazarett im Fort Reiley, Kansas, während der ersten Welle der Pandemie im Frühjahr 1918.

Ein neues Virus

Basierend auf der Analyse der Fälle, die Haskell in seinem County beobachtet, meldet er dem U.S. Public Health Service seine Vermutung, dass sich ein neuartiger und schwerwiegender Stamm des Influenza-Virus in den von ihm betreuten Gemeinden verbreitet. Dieses veröffentlicht diesbezüglich am 5. April einen Health Alert, da sind aber sämtliche wesentlichen Entwicklungen schon im Gang.

Nationale Ausbreitung der Spanischen Grippe

Anfang März 1918 meldet sich in der 400km entfernten Militärbasis Fort Reiley, Kansas, der Koch Albert Gitchell mit einer Atemwegsentzündung, Schüttelfrost, Fieber und Kopfweh beim Sanitätsdienst. Innerhalb einer Woche bricht die Krankheit bei hunderten weiteren Soldaten aus. Wenig später sind über 1000 Personen in Fort Reiley infiziert, 50 davon erliegen dem Virus. Gitchell wird der erste offiziell verzeichnete Betroffene der Pandemie sein, die in drei Wellen über die folgenden zwei Jahre weltweit bis zu 600 Millionen Menschen heimsuchen wird.

Zum einen sind es die spezifischen Umstände des Jahres 1918, die es dem H1N1-Virus ermöglichen, sich global zu verbreiten. Der überwiegende Teil der Weltbevölkerung bewegt sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts nur in den seltensten Fällen über die Grenzen des eigenen Wohnbezirks hinaus. Mit dem 1. Weltkrieg setzt ein Strom globaler Güter- und Personenbewegungen ein, der es dem Virus ermöglichen wird, innerhalb kürzester Zeit bis in die abgelegensten Gebiete der Erde zu gelangen.

Die Regierungen kriegsführender Nationen befürchten negative Auswirkungen auf die Moral ihrer Bevölkerungen und unterdrücken Berichterstattung, die ein Risikobewusstsein schaffen könnte. Weil das neutrale Spanien keine solche Zensur implementiert und von dort die ersten Berichte über die tödliche Viruserkrankung in die Welt hinaus gehen, wird Spanische Grippe bis in die Gegenwart die zwar falsche, aber am weitesten verbreitete Bezeichnung für die Erkrankung bleiben.

Zum anderen sind es Defizite in der öffentlichen Reaktion auf die Krise, die an die Corona-Pandemie von 2020 erinnern, deretwegen es dem Virus ermöglicht wird, sich explosionsartig zu verbreiten. Mangelndes Leadership auf der föderalen Ebene, stark divergierende Maßnahmen auf den untergeordneten Verwaltungsebenen wie mangelnde und widersprüchliche Kommunikation sind nur die signifikantesten Verfehlungen.

Globale Ausbreitung der Spanischen Grippe

Infolgedessen verbreitet sich das Virus zuerst auf das über die gesamten USA verteilte Netzwerk von Armeebasen und von dort über Urlaube und Wochenend-Freigänge in der Zivilbevölkerung. Die erste Welle der Pandemie betrifft zwar viele Personen, weist aber eine vergleichsweise geringe Mortalität auf. In einer Zeit, in der das Kriegsgeschehen und hitzige Diskussionen über die schließlich 1919 implementierte Prohibitionsgesetzgebung im Vordergrund stehen, bleibt sie so vielerorts unter der Wahrnehmungsgrenze.

Bis im Herbst 1918 die zweite, um ein vielfaches tödlichere Pandemiewelle einsetzt, sind hunderttausende infizierte US-Soldaten auf den europäischen Kriegsschauplatz übergesetzt. Unter den beengten und unhygienischen Bedingungen von an der Front liegenden Massenheeren verbreitet sich das Virus wie ein Lauffeuer, auch unter den Zivilbevölkerungen. Amerikanische Soldaten sterben in der Folge am three-day fever oder dem purple death, Franzosen an eitriger Bronchitis. In italienischen Lazaretten glaubt man, Soldaten massenhaft an das Sandfliegen-Fieber zu verlieren, in deutschen an den Blitzkatarrh und das Flandern-Fieber.

Als die Pandemie nach einer dritten, sich in lokalen Ausbruchsherden manifestierenden Welle endet, sind nur die entlegensten Winkel der Erde von ihr verschont geblieben. Indigene, von Armut oder eben von Krieg betroffene Bevölkerungen haben einen besonders hohen Preis bezahlt. Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention berechnen, dass der Pandemie mindestens 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Manche Schätzungen gehen von bis zu 100 Millionen Opfern aus.