Die internationale Forschungskarriere der Helene Wastl
Helene Wastl wird am 3. Mai 1896 als Tochter des Oberstaatsbahnrates Peter Wastl und seiner Frau Helene in Wien geboren. 1904 übersiedelt sie mit ihrer Familie nach Innsbruck, wo Helene zuerst die Volksschule und das Mädchen-Lyzeum der Frauen Ursulinen besucht und dann Privatistin am k. k. Staatsgymnasium wird.
Studium und Promotion in Innsbruck
Nachdem sie 1916 mit Auszeichnung maturiert hat, beginnt sie im Wintersemester 1916/17 als eine der ersten 11 Medizinstudentinnen an der Universität Innsbruck zu studieren. Ab dem dritten Semester ist sie unter Ernst Theodor Brücke (1880–1941) als Demonstratorin am Institut für Physiologie angestellt. Helenes Studienleistungen sind überdurchschnittlich und sie besteht alle mündlichen Rigorosen mit Auszeichnung. Am 11.2.1922 wird sie an der Medizinischen Fakultät zum Doktor der Medizin promoviert und ist damit erst die zweite Österreicherin, der dieser akademische Grad in Innsbruck verliehen wird.
Lehre und Habilitation in Wien
In weiterer Folge wechselt Helene Wastl an das Institut für Physiologie der Medizinischen Fakultät Wien als Außerordentliche Assistentin des Physiologen Arnold Durig (1872–1961). 1928 stellt sie einen Antrag auf Verleihung der Lehrbefugnis und reicht als Habilitationsschrift Über die Wirkung des Adrenalins und einiger anderer Inkrete auf die Kontraktionen des Warmblütler-Skelettmuskels und mehr als 40 weitere wissenschaftliche Arbeiten ein.
Als ein Professorenkollegium diesem Antrag zwei Jahre später mit 21 zu 3 Stimmen stattgibt und das Unterrichtsministerium diese Entscheidung am 4.2.1930 bestätigt, wird Helene Wastl zur ersten habilitierten Medizinerin an der Universität Wien. Sie ist zu diesem Zeitpunkt in internationalen Forschungskreisen keine Unbekannte mehr. Ihr Mentor Durig bemerkt in seiner Stellungnahme zum Habilitationsantrag, dass für Wastl in Kürze der Ruf an eine amerikanische Universität zu erwarten sei, und betont, wie wichtig es sei, diese gute Kraft in Wien zu behalten.
Helene Wastl hatte – was sehr außergewöhnlich für eine unverheiratete Frau dieser Zeit war – schon seit ihrer Studienzeit immer wieder Auslandsaufenthalte absolviert. So forschte sie an den Universitäten in Groningen und Cambridge und führte in mehreren europäischen Ländern Studien im Auftrag der Hygiene-Sektion des Völkerbundes durch.
Forschung und Lehre in Amerika und der UdSSR
Nach ihrer Habilitation bewahrheitet sich Arnold Durigs Befürchtung und Wastl übernimmt 1931 den Lehrstuhl für Physiologie am Women's Medical College of Pennsylvania (Philadelphia). Die Quellenlage in Bezug auf ihren weiteren Lebensweg wird zunehmend dürftig, aber zumindest im Juli 1932 hält sie sich noch einmal in Wien auf und heiratet ihren Ex-Kollegen, den Physiologen Franz Lippay (1897–1965). Während Wastl zurück in die USA reist (und ihren Geburtsnamen behält), bleibt Lippay in Wien und emigriert 1938 aus rassischen Gründen nach Australien.
Nachdem sie infolge eines Reitunfalls 1934 für längere Zeit arbeitsunfähig ist, beendet das College ihre Anstellung. Helene Wastls nächste Forschungsstation ist am Department of Physiology and Biochemistry an der Cornell University in Ithaca, New York, als Resident Doctor.
Ein Eintrag über einen Aufenthalt in Saratow in der UdSSR lässt darauf schließen, dass sie auch am dortigen Medizinischen Institut tätig ist. 1935 wird ihre Ehe mit Lippay geschieden. Ab 1938 ist sie am Hahnemann Medical College in Philadelphia als Research Associate, zuerst in Pharmakologie, später in Anatomie, angestellt.
Ausgebürgert, vergessen und wiederentdeckt
In den 1940er-Jahren verliert sich Helene Wastls Spur. 1943 wird sie in Abwesenheit aus der Ostmark ausgebürgert, 1944 erkennt ihr die Universität Wien ihren Doktorgrad und die Lehrbefugnis ab. Die Medizinische Fakultät hatte sie, wegen ihrer Abstammung, bereits 1938 entlassen. Aus den Aufzeichnungen einer Kollegin geht hervor, dass sie das Ende des Krieges noch erlebt. Nach bestem heutigem Wissensstand stirbt Helene Wastl im Sommer 1948.
Nachdem sie in ihrer Heimat Österreich lange Zeit vergessen war, ist heute ein Mentoring-Programm an der Medizinischen Universität Innsbruck nach ihr benannt und Forscherinnen versuchen Licht in ihre letzten Lebensjahre zu bringen.