1. Dez. 2021Der Basisreproduktionswert macht den Unterschied

Schützt die Impfung von Kindern die Erwachsenen vor Covid-19?

Wer glaubt, dass die Kinderimpfung die große Wende bringt, sollte seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben: Die SARS-CoV-2 Impfung bei Kindern und Jugendlichen hat vermutlich keinen wesentlichen Einfluss auf die Covid-19-assoziierte Mortalität der erwachsenen Bevölkerung. Diese kann primär nur durch eine hohe Durchimpfungsrate der Erwachsenen reduziert werden.

Mädchen, das Selfie macht, während sie von einer reifen weiblichen Gesundheitsfachkraft einen Coronavirus-Impfstoff erhält
 iStock/ bojanstory

Bei der Covid-Impfung steht der individuelle Nutzen im Vordergrund.

Bei den meisten Kinderimpfungen steht der Aspekt des Individualschutzes ganz im Vordergrund: Von einer Rotavirus-, Tetanus-, Pertussis- oder FSME-Impfung profitiert einzig der Geimpfte, einen relevanten sekundären Nutzen für die erwachsene Bevölkerung gibt es nicht. Etwas differenzierter ist das Bild bei Masern und Röteln: Hier kann die Kinderimpfung zumindest dazu beitragen, die Gefahr einer Infektion in der Schwangerschaft zu vermindern.

Es gibt aber auch Erkrankungen, bei denen Impfungen im Kindesalter indirekt positive Auswirkungen auf Erwachsene haben. Warum das so ist und ob das auch bei Covid-19 zu erwarten ist, erklärt OA Dr. Holger Flick, Klinische Abteilung für Pulmonologie, Universitätsklinik für Innere Medizin, Med Uni Graz, am Beispiel von drei verschiedenen Erkrankungen: „Ein ganz wichtiger Faktor, der mitentscheidet, ob Impfungen im Kindesalter auch einen schützenden Effekt für nicht geimpfte Erwachsene haben, ist der Basisreproduktionswert von Infektionskrankheiten.“ Komplexe Modellrechnungen zeigen, dass die indirekten Effekte der Impfung (auch Herdeneffekte genannt), mit steigendem Basisreproduktionswert abnehmen. Bei einem R0 > 2, sind direkten Effekte der Impfung größer als die indirekten, bei einem R0 < 1 kommen zunehmend auch indirekte Impfeffekte ins Spiel, wenn das Hauptreservoir der Erreger überwiegend bei den Kindern liegt, aber der Erreger vor allem ältere Menschen schwer erkranken lässt.

Pneumokokken

Ein Beispiel für eine Erkrankung mit einem niedrigen Basisreproduktionswert sind Pneumokokken-Infektionen, die schon im Kindesalter eine große Rolle spielen (besonders gefürchtet die Pneumokokken-Meningitis). Auch wenn insgesamt mehr ältere und komorbide Personen an invasiven Pneumokokken-Erkrankungen (IPD) versterben, wurden die Konjugatimpfstoffe zuerst bei Kindern zugelassen. Internationale Daten zeigen aber eindrücklich, dass durch die Einführung des 7-valenten Impfstoffes (PCV7) schwere Pneumokokken-Erkrankungen mit den Vaccine-Serotypen nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen abnahmen. Das Gleiche wiederholte sich nach der Einführung des 13-valenten Impfstoffs (PCV13). Nicht von den Impfstoffen erfasste Serotypen stiegen im gleichen Zeitraum sogar an.

„Auch in Österreich wurden zwischen 2009 und 2016 Serotypen, die im Impfstoff PCV10 enthalten waren, seltener, während die Inzidenz von IPD mit Non-PCV10-Serotypen bei über 50-Jährigen zunahm“, berichtet Flick. Dass die Einführung der Pneumokokken-Vakzine in die nationalen Kinder-Impfprogramme auch einen signifikanten Einfluss auf die Mortalität bei den Erwachsenen hatte, ist durch zahlreiche Studien in vielen Ländern belegt.

Influenza

Die Impfung von Kindern hat wahrscheinlich auch Auswirkungen auf die Mortalität von Erwachsenen bei der Influenza, einer Erkrankung mit einer Basisreproduktionszahl von ungefähr eins. Beobachtungen aus Japan zwischen 1972 bis 2004 lassen zumindest einen positiven Effekt vermuten. Dort bestand von 1970 bis 1986 eine Impfpflicht für Kinder im Alter von 6–15 Jahren.

Die Impfung der Schulkinder ging einher mit einer beeindruckenden Reduktion der Sterblichkeitsrate bei den 1- bis 4-Jährigen und den 60- bis 65-Jährigen. In den USA, wo es keine vergleichbaren Impfkampagnen bei Kindern gab, blieb die allgemeine Sterblichkeitsrate von Erwachsenen in diesem Zeitraum unverändert.

Als die Impfplicht in Japan Mitte der 1980er Jahre gelockert wurde, kam es zu einem deutlichen Rückgang der Impfungen und der Mortalitätsrückgang bei Erwachsenen stagnierte ebenfalls. Ab 1994 wurde wieder vermehrt geimpft, diesmal aber bevorzugt Kleinkinder und ältere Menschen. Dadurch konnte eine weitere Reduktion der Mortalität durch Influenza bei Kleinkindern und älteren Menschen erreicht werden.

Ein großes Problem bei der Influenza ist, dass die Impfung bei älteren Menschen eine Schutzwirkung von nur 40–50 % hat. Da bei der Grippe besonders Kinder für die Infektionsverbreitung verantwortlich sind, geht man davon aus, dass die Impfung von Kindern auch wirksam ist, um die Ausbreitung der Erkrankung zu verlangsamen oder sogar zu blockieren.

Modellrechnungen ergeben, dass bereits eine 20%ige Durchimpfung von Schulkindern mit einem besseren Schutz vor schwerem Verlauf und Tod durch Influenza für über 60-Jährige einhergeht als eine Impfung von 90 % der Senioren.

SARS-CoV-2

Prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass SARS-CoV-2 infizierte Kinder auch zum allgemeinen Infektionsgeschehen beitragen. Da die Impfung aber erst seit Kurzem verfügbar ist, gibt es bei Covid-19 bisher noch wenig Daten, die zeigen, dass die Impfung von Kindern und Jugendlichen einen relevanten sekundären Nutzen für Erwachsene hat. Angesichts der hohen Basisreproduktionszahl (das Robert Koch-Institut geht hier von einem Wert zwischen 2,4 und 3,3 aus) dürfte der Effekt aber eher gering sein.

In ihrem Epidemiologischen Bulletin kommen die RKI-Experten aufgrund mathematischer Modellierungen zum Schluss, dass für den Verlauf der vierten Infektionswelle primär das schnelle Erreichen einer hohen Impfquote (75 % und mehr) bei Erwachsenen von Bedeutung ist und die Impfquote von Kindern und Jugendlichen nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Bei der Corona-Impfung von Kindern geht es also in erster Linie um den direkten Individualschutz der Kinder (Vermeidung schwerer Verläufe, sekundärer Erkrankungen und psychosozialer Folgeerscheinungen oder Einschränkungen).

Ein wesentlicher Einfluss auf die Covid-19-assoziierte Letalität der erwachsenen Bevölkerung ist zunächst nicht wahrscheinlich und auch nicht Ziel der SARS-CoV-2-Impfung im Kindesalter. Oder etwas anders formuliert: „Erwachsene Risikopatienten sollten sich nicht auf die Kids verlassen, sondern sich unbedingt und dringlichst selbst impfen lassen.“

31. Grazer Fortbildungstage der Ärztekammer Steiermark

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune