22. Okt. 2018HNO-Kongress

Hörgeräte können auch Demenz verbessern

Ein Themenschwerpunkt des heurigen HNO-Kongresses in Bregenz war die Altersmedizin. Experten hoben die Bedeutung von Hörbehelfen hervor, die Versorgung gestaltet sich in der Praxis aber schwierig. (Medical Tribune 43/18)

Studien lassen aufhorchen: Die richtige Wahrnehmung akustischer Signale ist wesentlich für die Aufrechterhaltung der kognitiven Leistung.

Die Otologie kann schon einiges bewirken: „Das Ohr ist das einzige Sinnesorgan, das heute vollständig ersetzt werden kann“, berichtet Univ.- Prof. Dr. Peter Franz. Der Leiter der HNO-Abteilungen der Krankenanstalt Rudolfstiftung und des Sozialmedizinischen Zentrums Ost – Donauspital in Wien erzählt von Cochlea- Implantaten – sogar bei über 80-Jährigen, wenn diese mit einem herkömmlichen Hörgerät nicht mehr auskommen. Der Fortschritt ist auch notwendig, denn die demografische Entwicklung in Österreich ist, wie in den meisten Industrienationen, durch einen stark wachsenden Anteil von Über-60-jährigen gekennzeichnet. „Bei diesen haben wir ungefähr ein Drittel hörgestörter Menschen“, berichtet Franz.

Auswahl an Hörgeräten

Typischerweise fällt der beginnende Hörverlust zuerst Bezugspersonen auf, bevor die Betroffenen selbst ihre Beeinträchtigung wahrnehmen. Als Erstes fallen hohe Töne wie Vogelzwitschern oder Klingeltöne dem Hörverlust zum Opfer, später zunehmend auch Stimmen. Besonders störend für die Betroffenen ist eine geräuschvolle Umgebung: Hier können Stimmen nur mehr sehr schlecht verstanden werden. Daraus resultiert häufig ein Vermeidungsverhalten, das mitunter zu sozialer Isolation führen kann. Neben den Cochlea-Implantaten bei nicht oder kaum erhaltener Innenohrfunktion existieren Schädelknochenimplantate bei gestörter Funktion des Mittelohrs, aber erhaltener Innenohrfunktion sowie implantierbare Hörgeräte für das Mittelohr. Viel häufiger als diese operativen Maßnahmen kommt jedoch eine Vielfalt konventioneller, abnehmbarer Hörgeräte zum Einsatz. „Die meisten Menschen haben eine Störung im Innenohr, die man mit konventionellen Hörgeräten versorgen kann“, so Franz.

Unterversorgter Hörverlust

In einer umfangreichen Studie, bei der Forscher in Peking Daten von Menschen aller Altersklassen in China ausgewertet hatten, fand sich bei 16 Prozent ein mehr oder minder stark ausgeprägter Hörverlust, berichtet Univ.-Prof. Dr. Wolf Dieter Baumgartner, Experte für Hörimplantate und geschäftsführender Oberarzt an der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten der Medizinischen Universität Wien. Von jenen Patienten, bei denen ein Bedarf für Hörgeräte festgestellt worden war, benutzten nur 6,5 Prozent ein solches – „eine Katastrophenzahl für die HNO-Gesellschaft – oder viel mehr für die Hörgeräteakustiker!“, klagt Baumgartner. (Im europäischen Raum ist dieser Anteil etwas höher: Laut EuroTrak-Studie 2018 liegt die Rate der mit einem Hörbehelf versorgten Hörbeeinträchtigten in Deutschland bei rund 37 Prozent.)

Laut Baumgartner haben diese Patienten mit einem Hörverlust oft zusätzliche sozioökonomische Probleme – wie beispielsweise ein geringeres Einkommen. Hörstörungen – etwa 30 Prozent der Fälle in Österreich betreffen Menschen unter dem 50. Lebensjahr – stehen nach Rückenschmerzen, Depressionen und Eisenmangel zudem an vierter Stelle der Erkrankungen, die zu den meisten „years lived with disability“ (Lebensjahre mit Behinderung) beitragen.1

Gehör- und Gehirnleistung

Ein signifikanter Zusammenhang zwischen Hörstörung und Demenz konnte erstmals 2011 festgestellt werden.2 Mittlerweile konnte diese Assoziation in zahlreichen Multicenterstudien nachgewiesen werden. Bei einer unbehandelten Schwerhörigkeit steigt das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, signifikant an. Eine internationale Forschergruppe befasste sich mit dem Zusammenhang zwischen Hörstörungen und demenzieller Entwicklung.3 Dabei zeigte sich eine signifikante Erhöhung des Demenzrisikos mit zunehmender Schwerhörigkeit: So ist eine milde Hörstörung mit einer Verdoppelung des Risikos einer demenziellen Entwicklung assoziiert, eine moderate Hörstörung verdreifacht es und eine ausgeprägte Hörstörung verfünffacht das Risiko gar.

„Das ist insgesamt also volkswirtschaftlich schon ein Problem“, merkt Baumgartner an. Schlechtes Hören wirkt sich indirekt, durch die Vermeidung sozialer Interaktion, daraus hervorgehender Isolation und häufig folgender Depression, aber auch direkt auf die kognitive Leistung aus. Sogar von Beobachtungen struktureller Veränderungen an der Gehirnmasse berichtet Baumgartner. „Das heißt, um das Gehirn funktionsfähig zu halten, ist das Hören eine ganz, ganz wichtige Maßnahme“, sagt Baumgartner und ruft zur besseren Versorgung mit Hörgeräten auf: „Versorgte Hörstörungen können zirka zehn Prozent der Demenzfälle verhindern.“ Laut dem Experten für Hörimplantate können Cochlea-Implantate bei schwer hörbeeinträchtigten Patienten mit kognitivem Abbau gewisse geistige Fähigkeiten sogar signifikant zurückbringen.

„Das heißt, wir können mit rehabilitativen Maßnahmen, wie Hörgerät oder Cochlea-Implantat, diese neuronalen Abbauprozesse wieder rückgängig machen“, erklärt Baumgartner; so könne man etwa zehn Prozent der dementen Patienten aus ihrer Erkrankung wieder herausholen. Auch soziale Isolation und Depression können durch eine Versorgung mit Hörgeräten zum Teil verhindert werden. Frühzeitige Versorgung spielt hierbei in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle: Einerseits, um dem kognitivem Abbau so früh wie möglich entgegenzuwirken, andererseits kommen geistig fittere Patienten besser mit den Geräten zurecht. Auch ein einseitiger Hörverlust kann Betroffene nachweislich einschränken und soll, laut Baumgartner, ebenso frühzeitig versorgt werden. So wichtig die Versorgung mit Hörbehelfen für Kognition und soziale Interaktion ist, so schwierig gestaltet sich oft die Umsetzung in die Praxis.

Hindernisse für Hörgeräte

Eine Ursache für die schlechte Akzeptanz ist die Stigmatisierung, so Univ.- Prof. Dr. Dietmar Thurnher, Vorstand der Universitätsklinik für HNO-Heilkunde und Leiter der Klinischen Abteilung für allgemeine HNO der Medizinischen Universität Graz. „Ich sehe das bei der eigenen Verwandtschaft, die wehren sich voll dagegen!“, klagt Thurnher und weist auf einen großen Bedarf an Aufklärungsarbeit hin. Ein weiteres Problem ist die richtige und alltägliche Verwendung der Geräte. „Das Hörgerät nur partiell zu nehmen, wenn die Kinder kommen – die eine Stunde in der Woche –, ist in Wahrheit zwecklos“, so Baumgartner. Er plädiert außerdem für ein logopädisches Hörtraining beim Erhalt eines Hörgerätes, um die korrekte Anwendung und damit den Nutzen des Geräts sicherzustellen: „Die Krankenkassen haben bisher recht abstruse Regelungen, dass man das alles nicht braucht. Aber es wäre wirklich hilfreich! Fünf bis zehn Stunden pro neuer Hörgeräteversorgung würde den Patienten viel bringen.“

Referenzen:
1 B.S. Wilson et al., Lancet 2017; doi: 10.1016/S0140-6736(17)31073-5
2 F.R. Lin et al., Arch Neurol. 2011; 68(2): 214–220
3 A. Kral et al., Lancet 2016; doi: 10.1016/ S1474-4422(16)00034-X

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune