29. Jän. 2018

Dr. Stelzl: Schöne junge elektronische Welt

Manchmal habe ich Sorge, zum technischen oder elektronischen Dinosaurier zu verkommen, weil bei uns daheim noch nicht Alexa oder Siri das Licht ausschalten oder auf ein lässig gegrunztes Kommando unsere Lieblingssongs abspielen. Auch blicke ich immer noch wehmütig auf unsere mittlerweile geschlossene Videothek zurück. Die mit den vielen bunten DVD-Hüllen und der netten Frau, die meinen Geschmack gekannt und uns durch ihre Empfehlungen viele entspannende Stunden bereitet hat.

Noch kann ich mich nicht durchringen, bei Amazon oder sonst irgendeinem Anbieter zu streamen. Einerseits habe ich das Gefühl, dass ich da noch nicht mitschwimmen möchte, und andererseits Angst, dass mich die rasanten Entwicklungen irgendwann einfach wegschwemmen werden. Und was dann? Werde ich in zehn Jahren noch leben oder arbeiten können außer als Sennerin? Und wahrscheinlich nicht einmal mehr das. Auch hoch oben am Berg wird WLAN sein und der Senn wird jeden Tag die Kühe scannen müssen und Massen von gesammelten Daten ins Tal hinunterschicken.

D wie Digitalisierung

Dabei bin ich brave Nutzerin von Computer, Tablets, Smartphones und Laptop. Ich bewege mich im Internet, ich arbeite mit einer sich ständig verbessernden Praxis-EDV und bin auch schön präsent auf Facebook. Wenn ich irgendwo hinwill, informiere ich mich vorher im Internet über die Öffnungszeiten und mein Smartphone berechnet mir den schnellsten Weg. Ich versuche wirklich alles, um nicht weggeschwemmt zu werden. Und trotzdem fühle ich mich immer öfter wie meine fünfundachtzigjährige Großmutter, als sie noch gelebt und kopfschüttelnd einer neuen, ihr unbekannten Welt gegenübergestanden hat. Dabei wage ich einmal zu behaupten, dass sich ihre Welt gar nicht so sehr verändert hatte, wie unsere dies nun mit Lichtgeschwindigkeit tut.

Die jungen Leute von heute haben es da entschieden besser. Die lernen schon im Internet zu surfen, bevor das mit dem Töpfchengehen so recht klappt. Und die ersten Worte sind nicht mehr ja oder nein, sondern ein oder aus. Kein Kind redet mehr mit seinem Teddybären oder der Puppe, es sei denn, die sprechen zuerst. Und Bücher werden nicht mehr gelesen, sondern die Dinger singen und blinken und reden. Kinder, die in der realen Welt den Weg vom Kindergarten nicht nach Hause finden würden, können nur mit Mühe daran gehindert werden, elektronische Sicherheitssperren am Computer ihrer Eltern zu knacken. Die Jungen sind also „Elektronik-Natives“ und definitiv besser ausgerüstet für diese Welt. Und manchmal könnte man neidisch werden und Minderwertigkeitskomplexe bekommen. Oder?

Wir schreiben den allerletzten Arbeitstag im alten Jahr. Trotz vier Vertretungen leert sich zu Mittag langsam das Wartezimmer. Fast will ich der Besten aller Assistentinnen schon sagen, dass der Tag ja ziemlich glimpflich und unspektakulär abgegangen wäre. Da beginnt es. Es erscheint ein junger Mann, nicht mein Patient. Husten seit fünf Wochen. Er hätte gerne mal eine ordentliche Diagnostik. Danach ruft die Enkelin einer alten Dame an. Eine Wunde am Schienbein sei jetzt seit zirka einer Woche wieder schlimmer geworden. Ein alter Mann erscheint und zeigt mir stolz seine Leistenhernie, die seit Weihnachten riesige Ausmaße angenommen hat. Und so weiter. Etwas, das wir alle kennen und was uns in abgeschwächter Form fast jeden Freitag gegen Ordinationsschluss und in intensiverer Ausprägung vor langen Wochenenden und Feiertagen passiert: Plötzlich ist die Praxis voll mit rausgezögerten Problemen, verschlampten Notwendigkeiten, verhatschten Infekten und mit prinzipiell allen Dingen, die man in Ruhe vor vier Wochen hätte erledigen können und sollen.

Innerlich könnte ich dabei immer ausrasten. Äußerlich bleibe ich ruhig und sortiere. Was muss ich heute und jetzt noch selber machen, wer gehört auf die Notaufnahme, wen kann man telefonisch beraten und bei Verschlechterung am Wochenende zum Ärztenotdienst schicken und was hat Zeit bis nächstes Jahr? Als ich endlich Licht ins Dunkel gebracht und sich das Chaos fast schon gelichtet hatte, läutet es an der Tür. Und danach gleich noch einmal.

Der erste Patient ist zwanzig Jahre und braucht eine Krankmeldung. Gestern hat er einmal erbrochen. Sein Hausarzt ist aber auf Urlaub und er sei heute den ganzen Vormittag auf der Suche nach der Vertretung herumgeirrt. „Telefon, Stadtplan, Routenplaner?“, schlage ich vor. Ratlos beäugt er sein Smartphone (das voll funktionsfähig ist) und fragt mich, wie er zu einer Telefonnummer oder einem Lageplan hätte gelangen sollen. Ich zeige es ihm und erkläre ihm auch, dass er seinen Chef anrufen muss, da ich ihn für heute nicht krankmelde. Die Unfähigkeit, das Internet zu nutzen, hat noch keinen ICD-Code. Kommt sicher noch.

Der andere „Technik–Native“ (einundzwanzig) hatte sich am Wochenende davor eine Rippe angeknackst. Jetzt braucht er rückwirkend eine Krankmeldung für die ganze Woche. Während ich versuche mit ihm zu kommunizieren, surft er ununterbrochen auf seinem Smartphone. Auf meine Frage, warum er nicht früher gekommen wäre, meinte er allen Ernstes, dass er nicht gewusst hätte, wie er einen Arzt hätte finden können. „Wie haben Sie mich denn heute gefunden?“ „Übers Internet und dann habe ich angerufen.“ „Sehen Sie: Dasselbe hätte auch am Anfang der Woche schon funktioniert. Das Internet wurde nicht erst heute um fünf vor zwölf erfunden!“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune