3. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Wiedermann-Schmidt: „Die Fragen gehen uns nicht aus“

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Erfolge und Herausforderungen bei der Impfstoffherstellung, Impfmüdigkeit und Antibiotikaresistenzen: Die Immunologin Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt im Gespräch. (Medical Tribune 26/18) 

Was hat sich in den letzten 50 Jahren auf dem Gebiet der Infektiologie getan?

Wiedermann-Schmidt: Extrem viel. Zunächst einmal sind neue Erkrankungen aufgetreten oder alte Erkrankungen zurückgekommen. Weiters hat es bei der Entwicklung von Antibiotika, aber auch von antiviralen Therapien enorme Entwicklungen gegeben. Und schließlich haben wir auf dem Gebiet der Vakzinologie einen Quantensprung erlebt.

Was hat sich denn alles in der Vakzinologie getan?

Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann- Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der MedUni Wien.

Wiedermann-Schmidt: Es hat eine enorm breite Entwicklung stattgefunden. Das Erregerspektrum und die Erreger konnten molekularbiologisch besser identifiziert und rekombinant hergestellt werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Der Hepatitis- B-Impfstoff war der erste rekombinante Impfstoff, der also nicht aus abgetöteten Viren, sondern nur aus einem Antigen besteht. Eine wichtige Errungenschaft der jüngeren Vergangenheit war die Identifizierung des Genoms der Meningokokken, sodass ein Proteinimpfstoff gegen Meningokokken B entwickelt werden konnte. Ein absolutes Highlight war die Erkenntnis, dass Humane Papillomaviren Krebs – nicht nur am Gebärmutterhals, sondern auch Genitoanalbereich und im Rachenraum – und Genitalwarzen auslösen können, und die darauffolgende Entwicklung eines Impfstoffes gegen die häufigsten onkogenen und nicht onkogenen HPV-Typen. Schließlich erwarten wir heuer noch einen inaktivierten Impfstoff gegen Herpes Zoster, der für alte Menschen, aber auch Immunsupprimierte verwendet werden kann.

Zugleich mit diesen riesigen Fortschritten haben sich – zumindest in Europa – Impfmüdigkeit und auch eine radikale Gegnerschaft gegenüber Impfungen generell entwickelt. Wie kam es dazu?

Wiedermann-Schmidt: Durch den Erfolg der verschiedenen Impfprogramme sind viele Infektionskrankheiten aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Daher haben viele Menschen nicht mehr die Einsicht, dass diese Erkrankungen etwas Gefährliches sind. Stattdessen sorgen sie sich im Übermaß, dass die Impfstoffe zu Nebenwirkungen führen. In den Entwicklungsländern hingegen ist die Risikoeinschätzung eine ganz andere. Die werden noch immer von den großen Infektionskrankheiten geschüttelt und wünschen sich sehnlich Impfstoffe, aber ihnen fehlen die finanziellen Mittel und die logistischen Voraussetzungen für flächendeckende Durchimpfungen.

Wie kann man Impfmüdigkeit beziehungsweise Impfgegnerschaft hierzulande in den Griff bekommen?

Wiedermann-Schmidt: Etwa sechs Prozent der Bevölkerung sind absolute Impfgegner. Diese Menschen sind so stark ideologisch geprägt, das sie für Vernunft nicht zugänglich sind. Die viel größere Gruppe sind jene, die verunsichert oder skeptisch Impfungen gegenüber sind, die im Internet Antworten auf ihre Fragen suchen und dann auf eine Flut von teilweise falschen und unsinnigen Inhalten stoßen, die Angst verbreiten. Hier ist Aufklärung enorm wichtig, vor allem im direkten Gespräch mit den Patienten.

Sie sagten, dass auch die Entwicklung von Antibiotika enorme Fortschritte gemacht hat. Wieso kam es parallel dazu zur rasanten Entwicklung von Antibiotikaresistenzen?

Wiedermann-Schmidt: Das Hauptproblem ist der unachtsame Gebrauch von Antibiotika. Die Medikamente werden gegen Keime eingesetzt, gegen die sie nicht wirksam sind, oder die Behandlung wird frühzeitig abgebrochen, sodass bei den Erregern eine Gewöhnung eintritt. In Ländern wie Frankreich, wo die Resistenzen stark zugenommen haben, ist es sicher eine Kombination aus unsachgemäßer Verwendung und zu leichtem Zugang. Nicht überall bedarf es – so wie bei uns – einer ärztlichen Verschreibung. Resistenzen können sich sehr rasch entwickeln und dann kommt man schnell in eine Situation, dass sich Keime entwickeln, die gegen viele Antibiotika resistent sind. Das ist ein bedrohliches Szenario, weil dann überhaupt keine Möglichkeit der Behandlung mehr besteht. Bei der Tuberkulose etwa ist es in einigen osteuropäischen Ländern durch falschen Einsatz von Antibiotika zu Multiresistenzen gekommen, die ein wirkliches Behandlungsproblem darstellen.

Wie kann man der Resistenzbildung entgegensteuern?

Wiedermann-Schmidt: Österreich ist zum Glück ein Land, wo sich Resistenzen nicht in diesem Maß entwickelt haben, weil Antibiotika vorsichtig eingesetzt werden. Das ist auch das Kernprinzip: Nicht in den Automatismus zu verfallen, beim ersten Anflug von Schnupfen sofort ein Antibiotikum zu geben. Die primäre Frage ist immer, ob es sich überhaupt eine bakterielle und nicht eine virale Infektion handelt. Überdies müssen Maßnahmen gegen die leichte Zugänglichkeit von Antibiotika im Internet ergriffen werden. Auch hier ist Aufklärung wichtig, um einen zu leichten Antibiotika-Erwerb zu unterbinden.

Was hat sich auf dem Gebiet der viralen Therapien getan?

Wiedermann-Schmidt: HIV gehört nach wie vor zu den schwersten Epidemien seit dem 20. Jahrhundert. Man hat es zwar immer noch nicht geschafft, eine Prophylaxe zu entwickeln, aber es gibt mittlerweile eine sehr effiziente Kombinationstherapie, um die Virusreplikation zu minimieren, sodass die Erkrankung in Schach gehalten werden kann. Auch bei der Influenza versteht man immer mehr, wie das Virus funktioniert. Die Impfung gehört leider nach wie vor nicht zu den erfolgreichsten Impfungen – vor allem weil das Virus sehr mutationsfreudig ist und daher der Impfstoff oft nicht mit den zirkulierenden Viren übereinstimmt. Aber es gibt mittlerweile gute antivirale Mittel, etwa Neuraminidase-Hemmer, die – wenn sie frühzeitig gegeben werden – die Interaktion zwischen Virus und Rezeptor inhibieren.

Zurück zum Thema Impfen: Welche innovativen Methoden gibt es, um neue Impfantigene zu identifizieren?

Wiedermann-Schmidt: Die Technologien, die dabei zum Einsatz kommen, werden unter dem Begriff „systems biology“ zusammengefasst. Da geht es um ein Verständnis auf der molekularen und immunologischen Ebene. Voraussetzung dafür ist, dass man das Genom des Erregers sowie die Interaktion zwischen Erreger und Wirt kennt. In der Praxis bedeutet das, von einem Erreger zu wissen, gegen welche einzelnen Eiweißstoffe Antikörper oder zelluläre Immunantworten gebildet werden. Das ist mittlerweile bei vielen Erregern gelungen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, bei bereits erprobten Antikörpern das Molekül, an das dieser bindet, zu identifizieren. Diese Erkenntnis kann dann für die Entwicklung der nächsten Generation von Impfstoffen verwendet werden. Das nennt man „reverse vaccinology“. Indem für Impfstoffe möglichst nur noch pure Antigene verwendet werden, erspart man sich viele Moleküle, die eine sehr nebenwirkungsreiche Immunantwort induzieren würden.

Welche aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet des Impfens gibt es sonst noch?

Wiedermann-Schmidt: Es geht in Richtung personalisierte Medizin. Man geht weg vom „One shot fits all“ hin zu stratifizierten Impfansätzen. Die Zeit ist angebrochen, wo man sich fragt: Braucht das Kleinkind eine andere Impfung als der junge Erwachsene, der Alte oder der chronisch Kranke? Zu tun gibt es immer etwas in der Vakzinologie. Immer wenn man glaubt, man hat es geschafft, kommt wieder etwas Neues. Zum Beispiel Ebola: Diese Erkrankung hat es schon lange gegeben und vor vier Jahren entwickelt sie sich plötzlich zu einer echten Katastrophe. Denn das Auftreten einer derartigen Epidemie ist immer ein Wettlauf mit der Zeit und hängt von den logistischen Gegebenheiten des jeweiligen Gesundheitssystems ab. Dazu kommen die Fragen: Wie schnell kann ein Impfstoff entwickelt werden? Welche organisatorischen Maßnahmen muss man ergreifen? Es gehen die Fragen und vor allem die Aufgaben und Herausforderungen nicht aus.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune