29. Juni 201850 Jahre Medical Tribune

Allgemeinmedizin im Wandel

Gab es 1980 noch mehr „Praktische Ärzte“ als Fachärzte, so kippte dieses Verhältnis in den frühen 1990er Jahren. Vor allem im niedergelassenen Bereich ging das mit einem generellen Systemwechsel Hand in Hand. (Medical Tribune 26/18)

Die Zukunft der Hausärzte war schon immer ein Thema in der MT, die Sorgen meist groß – einige davon haben sich über die Jahre kaum verändert.

Die aktuelle Diskussion über einen drohenden Ärztemangel ist nicht neu: Nach einer ersten Ärzteschwemme Anfang der 1950er Jahre herrschte auch in den 1960ern ein teils enormer Medizinermangel. Die Ärztekammer beschloss aus diesem Grund 1966 ein „Memorandum über die Situation der praktischen Ärzte, insbesondere der Landärzte“. Ende der 1970er Jahre zeichnete sich dann eine Medizinerschwemme ab, die in den 1980ern voll durchbrach.

Praktiker-Anteil schwindet

Der Anteil der niedergelassenen Allgemeinmediziner an allen Ärzten betrug 1960 noch fast 40 Prozent, 2016 nur mehr 15 Prozent. Das Phänomen sei allerdings nicht auf einen Rückgang zurückzuführen, sondern auf ein langsameres Wachstum bei den Allgemeinmedizinern, erklärt Mag. Anton Sinabell, Leiter der ÖÄK-Abteilung für Statistik1. Im statistischen Zahlenwerk spiele auch mit, dass versteckte Pensionisten nicht mehr in der Ärzteliste geführt werden, Wohnsitzärzte präzise von den ordinationsführenden Ärzten getrennt wurden und dass die Zahnärzte Ende 2005 aus der Ärztekammer ausgegliedert worden sind. Trotzdem ist der wesentlich stärkere Anstieg der Fachärzte offensichtlich. Betrug 1980 das Verhältnis noch 1 : 1,1, so war es 2016 schon 1 : 1,6. Die stärkere Wachstumsdynamik der Fachärzte fällt im niedergelassenen Bereich noch stärker aus. Gab es im Jahr 1980 noch mehr Allgemeinmediziner (bis 2000 „Praktische Ärzte“ genannt) in den Ordinationen, so kippte dieses Verhältnis in den frühen 1990er Jahren. Diese Entwicklung ging mit einem generellen Systemwechsel einher. Während in den 1980er Jahren der Facharzt überwiegend im Spital lokalisiert war, ging er in den folgenden Jahrzehnten verstärkt in die Niederlassung. Betrachtet man die niedergelassene Allgemeinmedizin in den 1980er Jahren, so ist sie durch einen stereotypen Karriereplan gekennzeichnet: Turnus – Niederlassung – Kassenvertrag. 1987 verfügten 72 Prozent der Allgemeinmediziner mit Ordination über einen GKK-Vertrag, 81 Prozent über wenigstens einen Kassenvertrag. 2016 nur mehr 59 Prozent.

Das klassische Rollenbild

„In den alten Auswertungen finden sich nur wenige Informationen oder Indizien bezüglich eines Leistungsspektrums, das über das klassische Rollenbild hinausgeht“, gibt Sinabell zu bedenken. „Theaterärzte, Bahnärzte, erste Betriebsärzte, Fürsorgeärzte, Schulärzte, mehr findet sich kaum.“ In der Zwischenzeit habe sich viel verändert. Vor allem eine ganze Reihe von Diplomen, Dekreten, Zertifikaten und Anerkennungen bezüglich spezifischer ärztlicher Fort- und Weiterbildung würden heute von der Akademie der Ärzte (früher von ÖÄK) vergeben und seien damit statistisch erfasst. Ein Großteil dieser Diplome sei ein direkter Hinweis auf Leistungsbereiche, die es in den 1980er Jahren noch gar nicht oder nur in geringem Ausmaß gab. Sinabell: „Damit zeigt sich auch, dass der niedergelassene Allgemeinmediziner alleine von seinem Leistungsspektrum her nicht mehr eine so homogene Gruppe darstellt wie in früheren Jahren.“

Neue Praxistypen

Langsam, still und leise sei über die Jahre darüber hinaus ein weiterer Gesundheitsmarkt entstanden. Diesen nicht öffentlich finanzierten Medizinbereich habe es immer gegeben. Er habe nur in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung gewonnen. Dabei handle es sich aber nicht um einen Markt, der klar abtrennbar neben dem öffentlich finanzierten steht, sondern um einen in weiten Bereichen durchlässigen, betont Sinabell: „Patienten wechseln oft dann, wenn ihr Leidensdruck im öffentlichen Gesundheitsbereich oder ihre Zahlungsbereitschaft ausreichend hoch ist, auf privatmedizinische Leistungsangebote.“ Im Gegensatz zur Allround-Praxis scheine ein neuer Praxistyp entstanden zu sein, der (stereotyp) keine regelmäßigen ordentlichen Öffnungszeiten hat, sondern nur über Terminvereinbarung funktioniert, nur ein eingeschränktes Leistungsspektrum anbietet, in der Regel nicht geräteintensiv ist und dessen Praxis-Infrastruktur mit geringem finanziellen Engagement betrieben wird: Einmietung in anderer Praxis, Gruppenpraxis, Gemeinschaftspraxis etc. Dem Klischee folgend wird diese Praxis überwiegend von Frauen betrieben, bestätigt der ÖÄK-Statistiker. Sie widme sich mit Schwerpunkt der Gesprächsmedizin oder alternativmedizinischen Ansätzen und befinde sich im oder in der Nähe der urbanen Zentren. Die wirtschaftliche Situation sei freilich oftmals schwierig.

Problem der Attraktivität

Als markant – und besorgniserregend – bezeichnet Sinabell aktuell den Gipfel bei den Kassenärzten, der jenseits der 60 Jahre steil abfällt. Dies bedeute, dass in der nächsten Zeit eine große Gruppe von Kassenärzten in das Pensionsalter kommt und daher altersbedingt ersetzt werden muss. Es gehe um immerhin über 1.300 Ärzte in den nächsten fünf Jahren und um etwa 270 Vertragsübernahmen. Allerdings sieht der ÖÄK-Statistiker den drohenden Ärztemangel weniger als ein Problem des mangelnden Nachwuchses, sondern eher als ein Problem der Attraktivität der klassischen medizinischen Tätigkeitsbereiche: „Die Stärkung des ,Hausarztes‘ stand über die Jahrzehnte nahezu in jedem Parteiprogramm, geändert hat sich bisher aber wenig, und wenn doch, dann eher nicht zum Besseren.“

1 Quellen: ÖÄK, Statistik Austria, Zeitschrift für Gesundheitspolitik – Ausgabe 2/2016 Sinabell 22

Frauen-Zuwachs

  • Anfang der 1970er war nur jeder fünfte Arzt eine Frau. Obwohl der Frauenanteil beständig stieg, sollte es noch rund 20 Jahre dauern, bis er ein Drittel ausmachte. Erst 1995 erreichte der weibliche Anteil der Ärzteschaft gut 33 Prozent. 2008 war das Geschlechterverhältnis noch immer nicht ausgeglichen. Der Frauenanteil lag bei 42,1 Prozent. Bei den Turnusärzten allerdings hatten Frauen die Männer bereits überholt, knapp 60 Prozent waren 2008 weiblich.
  • Und heute, 2018? Immer noch gibt es mehr Männer unter allen Ärzten, nämlich 24.064 Ärzte und 21.704 Ärztinnen. Nicht nur unter den Turnusärzten, sondern auch unter den Allgemeinmedizinern gibt es mittlerweile jedoch mehr Frauen: 7.988 Allgemeinmedizinerinnen und 5.520 Allgemeinmediziner. Bei jenen mit Ordination liegen die Männer noch leicht vorne, bei den GKK-Ärzten sogar deutlich: 2.383 Allgemeinmediziner, 1.404 Allgemeinmedizinerinnen.

Turbulente Zeiten

Ärztestreiks gibt es nicht erst heute. 1972 fand die bis dahin größte Ärztedemonstration statt: Aus ganz Österreich kamen etwa 7.000 Ärzte, Dentisten und Medizinstudenten zur Protestkundgebung bei der Wiener Hofburg und auf der Ringstraße. Ordinationen blieben geschlossen. Der Zorn richtete sich gegen die geplante 29. ASVG-Novelle, die wesentliche Eingriffe in die Rechte der Ärzte und ihrer Standesvertretung vorsah. Der Aufstand war erfolgreich: Die zwischen ÖÄK und Hauptverband erzielte Einigung fand ihren Niederschlag im Bericht des Sozialausschusses im Parlament.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune