16. Apr. 2018

Assessment in der Primärversorgung

Macht ein geriatrisches Assessment in Hausarztpraxen Sinn? Das war die Gretchenfrage auf dem Gasteiner Geriatrie-Kongress in einer hochkarätigen Diskussion. Antwort: Eher ja, sofern die Prämissen passen. (Medical Tribune 13/18)

Die WGKK testet derzeit den Einsatz eines geriatrischen Assessment-Instrumentariums für die hausärztliche Praxis.

18 Hausärzte haben sich freiwillig gemeldet, ein Assessment-Instrumentarium für die Primärversorgung zu testen. Entwickelt wurde es vom SV-Competence Center Integrierte Versorgung (CCIV) unter der Ägide von Priv.-Doz. Dr. Sylvia E. Reitter-Pfoertner, WGKK, die das neue Modell (siehe rechts) in Bad Hofgastein vorgestellt hat. In der anschließenden Pro & Contra- Debatte zur Sinnhaftigkeit eines solchen Assessments brachte Befürworterin Prim. Dr. Ulrike Sommeregger, Vorständin der Abteilung für Akutgeriatrie, Donauspital Wien, vor allem ein Argument ein: Um nichts zu übersehen, müsse man systematisch mit standardisierten Tools hinschauen. Denn die Tatsache, dass etwa 50 Prozent aller mittelschweren Demenzen weder vom Hausarzt noch von den eigenen Angehörigen als solche identifiziert bzw. diagnostiziert seien, sollte zu denken geben – „es ist schon gut, wenn wir messen“.

Allerdings: „Wenn ich das eine beginne, muss ich beim anderen nachrüsten“, spricht Sommeregger ein „massives Strukturproblem“ an. Hausärzte bräuchten z.B. für komplexere Fälle auch ambulante, tagesklinische Strukturen, aber „in Wien gibt es momentan nur vier tagesklinische geriatrische Betten, das kann nicht reichen!“. Die Präsidentin der Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG), Univ.-Prof. Dr. Regina Roller-Wirnsberger, Grazer Univ.-Klinik für Innere Medizin, hat den Contra-Part nicht ohne „Conflict of Interest“ übernommen. Zunächst sei es ihr wichtig, die Rolle der Primärversorger in „Integrated Care“ herauszustreichen – „die Kollegen machen das gut“. Ein umfassendes Basis-Assessment hält sie nicht für nötig, vielmehr ein „gezieltes, personalisiertes Assessment“. Denn: „Man muss versuchen, mit den Mitteln und der minimalen Zeit, die Primärversorger haben, auf dem Weg, den sie mit ihren Patienten gehen, jene Zeitpunkte zu erkennen, wo akuter Handlungsbedarf besteht.“

Evidenz als Richtschnur

Für ein geriatrisches Assessment in der Primärversorgung gebe es zudem „null Evidenz“. Im Gegensatz zu einer „detaillierteren Symptomenerhebung“ bezüglich Entzündung, Infektion, Gewichtsverlust sowie muskuloskelettalen Schmerzsyndromen. „Wenn Sie das in die Anamnese integrieren und entsprechende Maßnahmen einleiten, dann gibt es eine Evidenz dafür, dass die Patienten hinsichtlich Morbidität und Mortalität besser abschneiden.“ Bei der klinischen Untersuchung sei es (neben HINTS) vor allem die „grobe Kraft“, die eine „extrem hohe Evidenz“ habe, egal ob erhoben mit Dynamometer, Handkraft oder Fünf-Meter-Ganggeschwindigkeit. Weiters gebe es auch eine klare Evidenz für ein „Bündel“ an Laboruntersuchungen, das für Allgemeinmediziner im Komplexmanagement für geriatrische Patienten sinnvoll wäre und bewilligt werden sollte. Einer, der geriatrische Assessments ohnehin schon länger macht (und auch am Praxistest teilnimmt), ist Dr. Peter Wendler, seit 31 Jahren niedergelassener Hausarzt in Graz mit Zusatzfach Geriatrie.

Die Assessments wendet er an, um Verdachtsmomente zu präzisieren, um den Status ante bei Spitalseinweisungen dokumentiert zu haben und im Rahmen von 70plus-Vorsorgeuntersuchungen, die er seit einigen Jahren anbietet. Er rät „kleine Brötchen“ zu backen (ähnlich wie bei den Anfängen des Diabetes- Programms „Therapie Aktiv“) und legt den Finger gleich auf mehrere Wunden im System: Die „Cash-Cow des österreichischen praktischen Arztes“ sei der schlecht versorgte geriatrische Patient mit einer leichten kognitiven Störung, da dieser fünfmal (statt einmal) in der Woche komme, um seine Medikamente abzuholen. Andererseits gebe es Limitierungen, z.B. in der Steiermark beim „Hausärztlichen Koordinationszuschlag“, dieser sei in der dritten Woche des Quartals aufgebraucht. „Das ist ein Federstrich, das zu ändern!“ Und zur Versorgung: Vor 30 Jahren hatte sein Bezirk 9.600 Einwohner, jetzt sind es 17.000. „Wir sind noch immer dieselbe Anzahl von Hausärzten.“

Eine gemeinsame Sprache

„Die Initiative der WGKK mit einer Assessment-Strategie für einen doch qualifizierten niedergelassenen geriatrischen Hausarzt finde ich großartig“, lobt Prim. Dr. Peter Mrak, Leiter der Abteilung Innere Medizin 2, LKH Weststeiermark, Standort Voitsberg, das Testmodell. Jedoch brauche es eine „gemeinsame Sprache“ an der Schnittstelle, die in der Zukunft eine digitale sein wird. „Wir haben im österreichischen AGR-Struktursetting derzeit 70.000 Datensätze zu geriatrischen Patienten und erheben dort ungefähr dieselben Funktionalitäten, die Sie im Ihrem Assessment hier auch gezeigt haben“, sagt er anerkennend zu Reitter-Pfoertner. Diese bekräftigt „aus Sicht einer integrierten Versorgung“ die Notwendigkeit des geriatrischen Assessments auch in der Primärversorgung, natürlich müsse man z.B. bei der Digitalisierung noch nachschärfen. „Ich wünsche mir mehr Bewusstsein bei den Allgemeinmedizinern, dass es diese geriatrische Kompetenz auch braucht, das ist unserer Erfahrung nach nicht immer so vorhanden“, berichtet Reitter-Pfoertner, die gespannt ist, „was unsere kleine Testung ergibt.“

Versorgungsmodell in Erprobung

Die WGKK hat gemeinsam mit Experten (darunter drei Geriater) ein 60-minütiges geriatrisches Assessment-Instrumentarium für die hausärztliche Praxis entworfen. Nach einer bundesweiten Befragung von Kassen-Allgemeinmedizinern mit ÖÄK-Diplom Geriatrie (n = 532, Rücklauf: 11 %) hat der Praxistest begonnen: 18 Allgemeinmediziner nehmen teil, darunter 2 PVE. Ende des Praxiseinsatzes ist voraussichtlich Ende April 2018, danach wird analysiert. Die Zielgruppe sind geriatrische (≥ 65), multimorbide Personen mit komplexem Versorgungsbedarf:

  • seit mind. 6 Monaten mind. 2 der 4 folgenden Punkte: bestimmte physische oder psychische Erkrankungen; Symptomenkomplex wie Gebrechlichkeit, chronischer Schmerz; Sinnesverlust wie Blindheit, Taubheit; Alkohol- oder Substanzmissbrauch
  • bei mind. 1 von 3 folgenden Faktoren: erschwerende sozioökonomische Faktoren; erschwerende mentale/kognitive Faktoren; Medikations-/Polypharmazie-assoziierte Probleme

Forum für Geriatrie und Gerontologie; Bad Hofgastein, März 2018

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune