1. Mai 2018

Ist Klara wirklich nur sehr schlank?

Der Fall. Klara (20 J.) ist heute das erste Mal bei Ihnen. Sie wird von ihrer WG-Kollegin Anna gebracht. „Mir geht es total gut. Aber Anna ist der Meinung, ich sei viel zu dünn und mache zu viel Sport. Dabei war ich immer schon sehr schlank, Mama auch. Ich geh jeden Tag laufen, um den Kopf frei zu kriegen als Ausgleich zum anstrengenden Jurastudium, das ist ja nicht so viel. Bitte sagen Sie Anna, dass alles passt, damit ich endlich meine Ruhe hab“, berichtet Klara Ihnen. Klara ist fürs Studium vor sechs Monaten in die Stadt gekommen. Als Klara sich für die Untersuchung auszieht, steht ein kachektisches Mädchen vor Ihnen. Sie ist 1,75 m groß und wiegt 40 kg (BMI 13). Cor: rein, rhythmisch, bradycard, Pulmo: bds. unauff., RR 100/80 mmHg, P 50, Temp. 36,5° C, Letzte Menses: vor 5 Monaten (gibt an die Regel noch nie regelmäßig gehabt zu haben, 1. Menses mit 16), Stimmung: gut, Schlaf: sehr gut. Wie gehen Sie weiter vor? (ärztemagazin 6/18)

„Alle Kriterien für eine Anorexia nervosa sind in diesem Fall erfüllt“

Univ.-Prof. i.R. Dr. Harald Aschauer,
FA für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Wien, www.praxisberggasse.at
Ein BMI von 13 ist Untergewicht. Die Patientin gibt an, das Körpergewicht sei seit langer Zeit unverändert und nicht Folge einer rezenten Krankheit. Weiters isst sie sehr wenig und wenn, dann vermeidet sie „dick machende“ Speisen. Die junge Frau findet sich auch nicht „viel zu dünn“. Somit sind die Kriterien für Anorexia nervosa erfüllt: Untergewicht, das selbst herbeigeführt ist, und gestörte Selbstwahrnehmung. Ein zusätzliches Kriterium liegt auch vor: ausbleibende Menstruation als Ausdruck einer endokrinen Störung. Übertriebene körperliche Aktivität ist diagnostisch nicht unbedingt erforderlich. Somatische Befunde sind diagnostisch von begrenztem Wert und meist unspezifische Folgesymptome des Essverhaltens (z.B. Elektrolytstörung, Bradykardie).

Erste Schritte einer Behandlung sind Beziehungsaufbau und Herstellung der Motivation für eine Therapie. Es besteht Diskrepanz zwischen den Zielen des Therapeuten (Normalisierung des Körpergewichts, Verbesserung von Körperwahrnehmung, emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten und sozialer Kompetenz, Klärung familiärer Konflikte, Abbau von Ängsten) und der Änderungsbereitschaft der Patientin. Die junge Frau, eventuell auch Angehörige, sollten sich u.a. durch Bücher informieren, es sollte professionelle Psychoedukation erfolgen. Psychopharmakotherapie hat sich bei Anorexia nervosa bisher als nicht ausreichend wirkungsvoll erwiesen (weder Antidepressiva noch Neuroleptika oder andere Psychopharmaka). Demgegenüber sollte eine (ambulante oder teilstationäre) Psychotherapie eingeleitet werden: Kognitive Verhaltenstherapie, kognitive analytische Therapie, psychodynamische Therapien und Familientherapie sind erwiesenermaßen wirkungsvoll. Eine stationäre Behandlung sollte bei massiver gesundheitlicher Gefährdung empfohlen werden: BMI unter 13, rascher Gewichtsverlust, Elektrolytverschiebungen, hirnorganisches Psychosyndrom.

„Es besteht eine dringende Indikation zu einer stationären Aufnahme“

Dr. Saba Harrach, FÄ für Neurologie,
FÄ für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Wien, www.neuropsychiatrie.at
Aufgrund des vorliegenden BMI, der übermäßigen sportlichen Aktivität, der fehlenden Einsicht und der bereits vorliegenden endokrinen Störung der Patientin ist laut ICD 10 von einer Anorexie auszugehen. Patienten die im Rahmen einer somatischen Erkrankung eine Kachexie entwickeln, zeigen sich angesichts des veränderten Gewichts besorgt bzw. erkennen den objektiven Unterschied zum Normalgewicht. Bei der Patientin ist bereits eine deutliche gesundheitliche Gefährdung gegeben. Es besteht eine dringende Indikation zu einer stationären Aufnahme. Dabei sollten unbedingt Elektrolytschwankungen ausgeschlossen werden. Hypokalzämien treten häufig auf, Hyponatriämien können aufgrund von Polydipsie ebenfalls vorliegen. Bei zu schnellem Ausgleich kann dies zu einer zentralen pontinen Myelinolyse führen.Weitere Komorbiditäten sind u.a. Amenorrhö, Unfruchtbarkeit, Osteoporose und Hypoglykämie. Die Lebenszeitprävalenz für Anorexia-nervosa-Patienten, an einer Zwangsstörung zu erkranken wird mit 25%, die an einer Dysthymie oder Depression zu erkranken, mit 50–75% angegeben.

Die Mortalitätsrate von 5% nach fünf Jahren steigt bis zu 20% im Verlauf der Erkrankung. Bei dieser Patientin ist auch eine bereits beginnende Hirnatrophie nicht auszuschließen. Häufig fehlt die Einsichtsfähigkeit, eine psychotherapeutische Behandlung kann dann nicht zielführend sein. Im Vordergrund liegt die somatische Überwachung wie auch die vermehrte Nahrungszufuhr über eine Nasen-Magen-Sonde, wenn notwendig. Bevorzugt sollte die Patientin auf eine Spezialabteilung aufgenommen werden. Aufgrund einer vitalen Gefährdung kann bei fehlender Krankheitseinsicht das Unterbringungsgesetz angewendet werden.
Die Förderung einer Therapiemotivation steht aber im Vordergrund. Langzeitziel einer Therapie ist das Wiedererreichen eines gesunden Gewichts mit der damit auch normalisierten endokrinen Achse, aber auch die Behandlung psychiatrischer und somatischer Komplikationen. Idealerweise gilt es auch, einen normalen Hunger und ein Sättigungsgefühl zu erreichen, wie auch maladaptive Gedanken zu korrigieren. Psychopharmaka wie etwa Mirtazapin werden zwar angewendet, aber eine ausschließliche medikamentöse Therapie ohne psychotherapeutische Behandlung ist bei Anorexie nicht Erfolg versprechend.

„Es gibt kein rationales Argument, das in ein vernünftiges Gespräch führt“

Univ.-Doz. Dr. Margot Schmitz,
FÄ für Psychiatrie und Neurologie, Wien, www.schmitz.at
Am Beginn des Gesprächs ist klar, es gibt kein rationales Argument, das in ein vernünftiges Gespräch führt. Diese Welt der Essgestörten ist eine Rauschwelt, die die Macht über den Hunger im Mittelpunkt hat und nichts zulässt, was Gewicht, Essen, Kalorien, Zunehmen, dünn, Diät, vernünftiges Essen, und ähnliche Reizworte beinhaltet. Daher ist die einzige Möglichkeit, einen emotionalen Kontakt auf einer Ebene herzustellen, die nicht in diesen geschlossenen Kreis wie in ein schwarzes Loch der Blockade gesaugt wird. Man versucht, einen Anker zu werfen in die Welt, die außerhalb der Thematik liegt, etwas was Spaß macht, etwas was Gefühle hervorruft, die man aufgreifen kann und die eine Verbindung schaffen. Einfach in Kontakt kommen mit dem Menschen, der irgendwo hinter dem „Wahnsinn“ verborgen ist. Es kann ein Gespräch über die Freundin sein, warum sie wichtig ist, warum sie erreicht hat, dass die Patientin mitgegangen ist zu diesem Meeting.

Man kann reden über die Zeit, als die Freundin sich keine Sorgen machte: Was war da anders? Ab wann hat sich die Freundin Sorgen gemacht, was hat sich da vielleicht geändert? Es könnte etwa so sein, dass die Freundin keine Ruhe gibt, weil sie über viele Dinge beunruhigt ist. Was könnte das sein? Dass die Sauerstoffversorgung im Gehirn nicht mehr ausreicht, wenn man zu wenig Blut im Körper zirkulieren hat? Das könnte man überprüfen und so Beruhigung erreichen. Oder es könnte sein, dass die Freundin sich Sorgen macht, dass das Herz nicht mehr richtig in seiner Verankerung aus Fett liegt oder dass die Knochen nicht mehr dicht genug sind, um Brüche zu verhindern, oder die Elektrolyte im Blut nicht mehr in Balance sind. Man könnte also die wichtigsten Organe scannen, eine Blutuntersuchung machen, um Klarheit zu bekommen, ob die Sorgen der Freundin medizinisch berechtigt sind. Es könnte sein, dass die Hormone verrückt spielen, weil sie den Stress nicht mehr ausgleichen können, und die Schilddrüse oder die Nebenniere verrückt spielen, die Leber mit der Gallenflüssigkeit nicht mehr richtig zurechtkommt.

Das Anführen der Organe, die innen funktionieren müssen, gehört nicht in die Welt der „Zu dick“-Kontrolle. Die Untersuchung muss man als behandelnder Arzt sowieso machen und man hat eine Orientierung, um weiter im Gespräch zu bleiben. Damit schafft man mit Geduld, Ernstnehmen von Ängsten und ärztlicher Verantwortung den Beginn einer langen Reihe von Gesprächen, die Erfolg haben können, und gestaltet die Verantwortung so, dass für beide Seiten das Gefühl entsteht: Eine Zusammenarbeit wird möglich.