„Der ELGA-Zug ist nicht aufzuhalten“

Der neue Chef des Hauptverbandes sieht sich selbst nicht als großer Reformer. Stattdessen setzt Dr. Alexander Biach auf schrittweise Verbesserungen im Einklang mit Systempartnern – und auf E-Services. (Medical Tribune 25/2017)

SV-Chef Alexander Biach
SV-Chef Alexander Biach

Haben Sie sich schon eingearbeitet, was sind Ihre ersten Eindrücke im Job und wie viele Wünsche wurden bereits an Sie herangetragen?

Biach: Ich habe das Glück, dass ich ja nicht ganz neu bin im Sozialversicherungsbereich und somit einen ganz guten Einblick habe, wie das System funktionieren könnte. Was mich freut ist, dass es rasch gelungen ist, dass wir uns auf drei Ziele geeinigt haben. Das ist der Bundes-Zielsteuerungsvertrag, um die Gesundheitsversorgung zu stärken, der Roll-out für die ganzen ELGA-Anwendungen und schließlich die Frage der Leistungsharmonisierung. Wünsche sind tatsächlich schon viele an mich herangetragen worden. Ich habe das aber nicht als lästig empfunden, sondern bereichernd, weil ich dadurch die Systempartner und deren Anliegen besser kennen lerne.

Alte Interviews Ihrer Vorgänger lesen sich weitgehend gleich. Schon vor zehn Jahren war von Strukturreformen und Effizienzsteigerungen die Rede, passiert ist aber nichts. Wieso sollten Sie mehr Erfolg haben?

Biach: Ich würde nicht sagen, dass nichts passiert ist. Wir haben ständig Anpassungen des Systems. Ich glaube, womit wir zu inflationär umgegangen sind, ist das Wort Reform. Das inkludiert irgendwie die Erwartungshaltung „Ich reiße das ganze Haus nieder und bau es neu“. Ich sage, das wäre falsch. Warum wollen Sie ein Haus, das funktioniert oder in vielen Bereichen intakt ist, niederreißen? Ich würde es verbessern. Ich habe das mit meinem Wochenendhaus auch so gemacht. Wenn man es komplett neu baut, besteht die Gefahr, dass es erst wieder Probleme gibt, und es dauert lange, bis es fertig ist. Das ist ein Ansatz, der mich schon unterscheidet: Ich möchte nicht so inflationär mit dem Wort Reform umgehen, sondern das Wort Verbesserung pflegen. Und verbessern möchte ich die Gesundheitsversorgung, den Service-Bereich und das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen gegenüber der Sozialversicherung. Da bin ich wieder bei den erwähnten drei Punkten.

Fangen wir mit dem Zielsteuerungsvertrags-Komplex an, in den ja auch das Thema Primärversorgung hineinfällt. Wäre es ein Problem, wenn das PHC-Gesetz in dieser Legislaturperiode nun nicht mehr beschlossen wird, oder wäre es vielleicht ohnehin besser, man überlegt sich das neu?

Biach: Also ich möchte grundsätzlich schon ein Gesetz. Ich möchte aber eines, das eine Versorgungsverbesserung der Versicherten sicherstellt. Andernfalls ist es mir lieber, wir denken noch einmal darüber nach. Und beginnen aber, die Primärversorgungseinheiten dennoch einmal umzusetzen. Denn das können wir auch ohne Gesetz. Wir haben im letzten Jahr eine 15a-Vereinbarung zwischen Ländern und Bund abgeschlossen und wir haben zusätzlich ein Gesundheitszielegesetz beschlossen im Nationalrat. Und da stehen diese Sachen ja schon drinnen. Ich war jetzt in Oberösterreich und habe mir dort die bereits bestehenden Primärversorgungszentren angesehen und ich muss sagen, diese funktionieren super.

Gerade aus Oberösterreich kamen ja Bedenken, dass das Gesetz mehr schaden als nutzen könnte …

Biach: Ich sage: Beginnen wir zu arbeiten, setzen wir das um, was wir im Zielsteuerungsvertrag vereinbart haben. Bis 2021 sind 75 Primärversorgungseinheiten geplant. Natürlich brauchen wir dann auch ein begleitendes, rechtsabsicherndes Gesetz. Aber bitte nicht so, dass alle Systempartner das ablehnen, vor allem die Ärzte.

Deren Bedenken werden bei Ihnen also Gehör finden?

Biach: Natürlich müssen wir auch auf die Ärzte hören. Alles andere wäre ja idiotisch. Ich kann ja nicht gegen die Ärzte beginnen, Gesundheitsversorgungen aufzubauen. Wie soll denn das gehen? Das wäre so, wie wenn ich mir als Lokaleigentümer mit meinem Kunden ausmache, was er isst, aber den Koch nicht frage, ob er das überhaupt kochen kann.

Im PHC-Modell erfolgt die Integration verschiedener Gesundheitsberufe nach dem Sachleistungsprinzip. Aber auch mit den 75 PVEs bleiben 95 Prozent der Versorgung bei den alten Einzelpraxen. Die würden auch gerne Patienten an andere Gesundheitsberufe überweisen. Wie wollen Sie das flächendeckend umsetzen?

Biach: Grundsätzlich ist mir eines wichtig: Wir machen ja keinen Komplettersatz des Hausarztes. Den wird es immer geben. Aber wir brauchen auch diese neuen Formen, gerade im ländlichen Raum. Man muss beides nebeneinander sehen, nicht als Konkurrenz. Wir bekennen uns zum Sachleistungsprinzip, weil ein noch niederschwelligerer Zugang zu Leistungen die Menschen letztendlich gesünder macht. Natürlich wollen wir auch nicht, dass das System missbraucht wird. Aber wir wollen das Sachleistungsprinzip in bestimmten Bereichen immer mehr durch Einzelverhandlungen ausweiten. Wir wollen beispielsweise mit allen Systempartnern die Zuweisung zu psychotherapeutischen Leistungen um 25 Prozent steigern. In Bereichen, wo wir erkennen, dass die Indikationen zunehmen, da versuchen wir das Sachleistungsprinzip auszuweiten. Aber nur in ausgewählten Bereichen.

Der Nachwuchsmangel ist ein großes Problem: Fehlt es an Attraktivität der Kassenverträge?

Biach: Nein, das sehe ich nicht so, dass es nur an der Attraktivität der Verträge liegt. Es geht ebenso um flexiblere Möglichkeiten bei der Arbeitszeit, aber auch die Möglichkeit, im Verbund mit anderen arbeiten zu können. Oft ist die Honorierung dann gar nicht so wichtig. Es geht um eine Gesamtbetrachtung der Arbeitsmöglichkeiten für Mediziner. Das Problem wird eher die bevorstehende Pensionierungswelle bei gleichzeitig nicht entsprechend hohen Ausbildungsraten. Vor allem bei den Allgemeinmedizinern. Und hier kann es wirklich nicht am Kassenvertrag liegen. Der Jungmediziner wird wohl nicht schon schauen, wie der Kassenvertrag ausschaut. Wir müssen also auch in der Ausbildung ansetzen und die Pensionierungswelle abfangen.

Kommen wir zur Leistungsharmonisierung. Sie wollen in einem Jahr die Hälfte von 23 verschiedenen Leistungen der Kassen vereinheitlichen. Glauben Sie nicht, dass es hier Widerstand in den regionalen Kassen geben wird?

Biach: Ich glaube im Zeitalter von Internet und Social Media ist der Druck gestiegen. Die Diabetes-Patienten sagen, für meine Blutzuckerteststreifen zahle ich in dem einen Bundesland viel weniger als in dem anderen. Oder bei der Zeckenimpfung gibt es unterschiedliche Kostenzuschüsse. Ich habe den Rollator, der zwischen Berufsgruppen unterschiedlich kostet. Und das versteht keiner, wieso ein Kärntner Bauarbeiter eine andere Leistung für den gleichen Beitrag bekommt wie ein Wiener Einpersonen-Unternehmen. Das wird als ungerecht empfunden und deshalb wird das System kritisiert. Im Einzelfall kann es schon Sinn machen, unterschiedliche Leistungen zu haben. Aber oft ist es nicht sinnvoll und sorgt für Unverständnis bei den Menschen.

Harmonisieren Sie nach oben oder nach unten? Bekommen also am Ende alle mehr oder weniger?

Biach: Ganz ehrlich: Ich möchte schon kostenneutral harmonisieren. Dort, wo wir eine gewisse Flexibilität haben und es auch nicht eine Unendlichbelastung für die Menschen darstellt, glaube ich, dass wir um das Verständnis der Menschen bitten können. Und in vielen anderen Bereichen, wo es als extreme Ungerechtigkeit empfunden wird, da bin ich dafür, dass wir versuchen, höhere Leistungsniveaus zu erreichen.

Heißt Harmonisierung auch Harmonisierung der Selbstbehalte?

Biach: Wir werden zumindest einmal versuchen müssen, das Thema der Mehrfachversicherung wegzubekommen. Bei den Selbstbeteiligungen sollte man zumindest versuchen, das System für positive Anreize, etwa im Bereich der Vorsorge, zu nutzen.

Und wie stehen Sie dazu, das ganze Honorarsystem zu überdenken bzw. überhaupt gleich Kassen zusammenzulegen?

Biach: Wir müssen die Effizienz-Studie abwarten. Ich bin ja derzeit Studiensammler. Dann werden wir darüber reden. Ich bin der Letzte, der sich gegen Strukturreformen stellt. Aber ich will es nicht, nur, weil es irgendwelche Parteiprogramme vorsehen. Man muss das in aller Ruhe und Besonnenheit aufarbeiten. Ich werde konsequent meinen Weg der Leistungsharmonisierung gehen. Denn wenn ich nicht die Software synchronisiere, dann werde ich auch keine Systeme zusammenführen können. Nur neue Türschilder aufzuhängen und zu sagen, wir sind jetzt ein einziges Haus der Sozialversicherung, ändert an der Effizienz des Systems null. Zuerst müssen wir die Hausaufgaben machen.

Stichwort E-Medikation: Wann erwarten Sie, dass der Roll-out erfolgt?

Biach: Ich hoffe, in diesem Monat noch. Nachdem schon 80 Prozent aller niedergelassenen Ärzte mit der Funktion e-Medikation und e-Befund-lesen ausgestattet sind, warten wir darauf, dass per Verordnung des BMGF der Startschuss in einem Bundesland gegeben wird. In welchem darf ich noch nicht sagen.

Apropos E-Services: ELGA wird ja viel kritisiert, etwa als PDF-Friedhof. Muss es verbessert werden?

Biach: Natürlich, es wird laufend verbessert werden. Aber es gibt kein Zurück, der ELGA-Zug rollt und ist nicht mehr aufzuhalten. Ich kann sagen, dass das beispielsweise im Hanusch-Krankenhaus alles wunderbar funktioniert. Ich verstehe, dass die Systemumstellung für manche schwierig ist. Aber das System ist wirklich super! Und es wird weiter wachsen, irgendwann werden die Vorteile überwiegen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune