22. Jän. 2018

MT50: Rauchen ist traditionell ein brennendes Thema (MT 46/1983)

Kaum ein Thema hat die Fachwelt in den zurückliegenden 50 Jahren derart bewegt wie das Rauchen. Interessant, wie sich die Berichterstattung gewandelt hat: Während heute um das allgemeine Rauchverbot in der Gastronomie gekämpft wird, waren in den späten 1960er Jahren noch Ärzte im Rahmen von Kongressen mit Zigarette im Bild. Und 1983 wurden stärkere Zigaretten gefordert. Der Grund: Durch den Trend zu Light-Zigaretten wurden, wie sich zeigte, von den Rauchern umso mehr Glimmstängel konsumiert und tiefer inhaliert.

Folgender Artikel erschien am 18. November 1983 in der “Medical Tribune”:

Mehr Nikotin in die Zigaretten!

Das Rauchen hat sich unstreitig zur wichtigsten einzelnen Krankheits- und Todesursache entwickelt. “Leichtrauchen” durch “schadstoffarme” Zigaretten ist ein Patentrezept der Tabakwarenindustrie, das die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens angeblich verringert. Dieses Rezept ist jedoch nicht nur falsch – es hat sich sogar als sehr gefährlich erwiesen. Seine Propagierung ist eine Irreführung, die beendet werden muß. Denn alles spricht dafür: Nicht weniger, sondern nur mehr Nikotin in Zigaretten kann ihre Gesundheitsschädlichkeit verringern!

Allein schon die Statistik liefert dafür die Beweise: Nach einem kürzlichen Bericht der EG-Kommission verminderte sich der Anteil der Zigarettenraucher an der Gesamtbevölkerung im EG-Bereich von 43,8% im Jahre 1960 auf 39,2% im Jahre 1979. Gleichzeitig stieg jedoch der Zigarettenverbrauch von 378 Milliarden auf 564 Milliarden Stück pro Jahr – weniger Menschen rauchten also mehr: der Durchschnittskonsum eines EG-Rauchers nahm von 1960 bis 1979 von 13,5 auf 19,4 Zigaretten zu. In der gleichen Zeit kletterte der Marktanteil von “leichteren” Filterzigaretten auf mehr als 87% (in der Bundesrepublik Deutschland). Daraus ergibt sich der zwingende Schluß: Die Reduzierung des Nikotingehaltes unter ein bestimmtes Maß wird vom Raucher nicht reaktionslos akzeptiert. Denn der Gewohnheitsraucher ist abhängig vom Nikotin – wenn es ihm nicht mehr entsprechend seinem individuellen Bedürfnis angeboten wird – wie durch die sogenannten nikotinfreien Zigaretten, die schnell wieder vom Markt verschwanden – steigt er entweder auf eine stärkere Zigarettenmarke um oder versucht auf andere Weise, sein Nikotinbedürfnis zu befriedigen. Zwei Möglichkeiten dazu hat er: Erhöhten Konsum oder verstärkte Inhalation.

Zahlreiche Untersuchungen lassen keinen Zweifel daran, daß die unbewußte Steigerung der Inhalationstiefe, die um zwei Zehnerpotenzen schwanken kann, und die erhöhte Zugfrequenz für die Nikotinaufnahme ungleich wichtiger sind als der Schadstoffgehalt. Das bedeutet: Selbst eine Halbierung des Schadstoffgehalts kann durch eine intensivierte Inhalation von nur einem Prozent mühelos kompensiert oder sogar überkompensiert werden. Mit Recht kam deshalb der Bericht des Surgeon General der USA schon 1981 zu der klaren Schlußfolgerung: “Es gibt keine sichere Zigarette und kein sicheres Konsumniveau. Das Rauchen von Zigaretten mit niedrigem Teer- und Nikotingehalt reduziert das Lungenkrebsrisiko nur dann, wenn der erniedrigte Schadstoffgehalt nicht kompensiert wird. Aber auch dann ist der Nutzen im Vergleich zum vollständigen Aufhören minimal … Kompensationsverhalten hebt die Vorteile des Leichtrauchens auf oder kann sogar das Risiko erhöhen.”

Diese Feststellung wird durch epidemiologische Studien untermauert, nicht zuletzt auch durch die Entwicklung der Lungenkrebs-Sterblichkeit in der Bundesrepublik Deutschland: Obwohl der Schadstoffgehalt der auf dem Markt angebotenen Zigaretten – nach Angaben der Industire – von 1961 bis 1975 um mehr als die Hälfte reduziert wurde und seither um weitere 36% absank, stieg die Zahl der Lungenkrebstoten in Deutschland seit 1961 kontinuierlich weiter an und erreichte nach Angaben des deutschen Statistischen Bundesamtes im letzten ausgewerteten Jahr mit 27.000 einen neuen absoluten Rekord!

Auch wenn man die lange Latenzzeit des Bronchialkarzinoms in Rechnung stellt, hätte die Lungenkrebsrate nicht zu, sondern abnehmen müssen, wenn verringerter Teergehalt gleichbedeutend mit verringertem Krebsirisiko wäre.

Filter-Raucher sterben früher

Dem Befund von Miller aus dem Jahre 1977, daß die Lebenserwartung von Filterzigaretten-Rauchern im Vergleich zu Rauchern ohne Filter durchschnittlich um zwei bis drei Jahre verkürzt ist, stand ich anfangs sehr skeptisch gegenüber. Dennoch hielt ich es für ratsam, bei einer Studie über die Epidemiologie des Lungenkrebses im Raum Mannheim – Ludwigshafen – Heidelberg an unserer Forschungsstelle auch der Überlebenszeit Beachtung zu schenken. Dadurch ließ sich der Millersche Befund bestätigen: Unter 792 Bronchial-Ca-Patienten, von denen 97,3% Raucher waren, lag das durchschnittliche Sterbealter des Filterzigaretten-Raucher signifikant um 1,6 Jahre niedriger als bei den Nicht-Filter-Rauchern! Besonders bemerkenswert war diese Lebensverkürzung für Filterraucher, weil ihr durchschnittlicher Tageskonsum um 4,6 Zigaretten niedriger lag als derjenige von Rauchern ohne Filter und weil auch die Gesamtrauchdauer der Filterzigaretten-Konsumenten mit durchschnittlich 40,5 Jahren deutlich kürzer als bei den Rauchern ohne Filter (43,1 Jahre) war. Bei geringerer kanzerogener Aktivität des Rauchens von Filterzigaretten wäre das Umgekehrte zu erwarten gewesen.

Dies und die Befunde, daß weder die Erkrankungshäufigkeit an Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren noch an Krebs der Mundhöhle, der Speiseröhre, der Bauchspeicheldrüse, der Niere und der Blase durch das Rauchen von Filterzigaretten vermindert wird, sind klare Beweise dafür, daß eine Beurteilung der Schädlichkeit von Zigaretten lediglich aufgrund des Schadstoffgehaltes unzulässig ist und eine Irreführung vor allem des Strebens nach mehr Gesundheit für den Raucher darstellt.

Aus den Befunden ergibt sich statt dessen die logische Konsequenz: Wenn man die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens vermindern will, sollte man zwar den Gehalt an Teer und anderen Schadstoffen – nicht zu vergessen das hochgiftige CO der Gasphase, das bisher nur in wenigen Ländern, z.B. in Schweden, kennzeichnungspflichtig ist – soweit wie möglich senken, nicht aber die Nikotinkonzentration. Im Gegenteil: Den Nikotingehalt sollte man sogar erhöhen, um dem Raucher die Möglichkeit zu bieten sein individuelles Nikotinbedürfnis mit einer geringeren Zahl von Zigaretten zu befriedigen und dadurch wenigstens die Aufnahme an anderen Schadstoffen zu minimieren. Schon 1977 habe ich der deutschen Zigarettenindustrie geraten, den Nikotingehalt in Zigaretten keinesfalls zu senken, sondern zu erhöhen. Aufgrund der inzwischen neu hinzugekommenen Erkenntnisse und Fakten möchte ich diese Empfehlung hiermit in den Rang einer Forderung erheben!

Inhalieren erschweren

Als eine noch bessere Alternative und Ergänzung möchte ich jedoch auch hier nochmals nachdrücklich meine frühere Forderung wiederholen, zur Herabsetzung des Gesundheitsrisikos durch das Rauchen naturbelassenen Tabak, der nicht zum Inhalieren verleitet, auch für Zigaretten zwingend vorzuschreiben.

Der “Hauptkiller” beim Rauchen ist bekanntlich die Zigarette. Zigarren- und Pfeifenraucher sind weniger gefährdet als Zigarettenraucher, weil Pfeifen- und Zigarrenrauch durch seine alkalische Reaktion im Gegensatz zum Rauch aus fermentierten und mit Soßen u.ä. aufbereiteten Zigaretten in der Regel nicht inhaliert wird. Schadstoffarme, relativ nikotinhaltige Zigaretten aus naturbelassenem Tabak – das ist deshalb nach meiner Überzeugung ein Kompromißrezept, um Gesundheitsschäden durch das Rauchen wirkungsvoll ein wenig zu verringern.

Eine Verordnung, die auch den Tabak für Zigaretten zwingend als naturbelassen vorschreibt, würde wahrscheinlich mehr Krankheiten verhüten und – zumindest auf lange Sicht – mehr Menschenleben retten als alle bisherigen Maßnahmen zusammen, diese Verordnung würde keinen Pfennig kosten. Sie wäre ohne technische Schwierigkeiten zu realisieren.

Eine mit mehr Nikotin und naturbelassenem Tabak in Zigaretten vermutlich verbundene Konsumsenkung dürfte auf den Widerstand der Tabakwarenindustrie stoßen. Es kann jedoch nicht länger hingenommen werden, daß der Zigarettenkonsum immer weiter steigt und immer mehr neue Käuferschichten, vor allem junge Mädchen und Frauen, in den Sog dieser skrupellosen Reklame geraten.

Prof. Dr. Ferdinand Schmidt
Forschungsstelle für prävenitve Onkologie,
Klinische Fakultät Mannheim,
Univ. Heidelberg

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune