Die Ärztin, die aus dem Fenster stieg …

Heute war wieder mal so ein Tag, an dem ich am liebsten aus dem Fenster gestiegen wäre und so die Praxis verlassen hätte. Und das schon um 10.30 Uhr. Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund dafür. Das Wetter war fein, der Himmel strahlend blau, es war weder heiß noch unangenehm kalt. Der Terminplan war voll, sodass man ein gutes Gefühl hat, beschäftigt zu sein, aber nicht so voll, dass man schon beim morgendlichen Betrachten des Tagespensums an einer Panikattacke erstickt. Aber trotzdem. Auch manch ein strahlend schöner Tag birgt alle möglichen und unmöglichen Überraschungen.

Beispielsweise eine Horde von unangemeldeten Patienten, die gleich in der Früh über die Ordination herfielen, sodass sich der Gedanke an einigermaßen beschauliches und ruhiges Arbeiten bereits um zehn Minuten nach Ordinationsbeginn verflüchtigt hatte, und nur mehr als Wunsch­traum in einer abgelegenen Hirnwindung vor sich hindämmerte. Vom schönen Wetter kriege ich sowieso nichts mit, da aufgrund der geografischen Nähe des Nachbarhauses – Mindestbauabstand, ich kann in ihrer Buchstabensuppe beim Mittagessen lesen – Jalousien die Ordination dauerhaft verdunkeln und gegen jeden auch noch so gleißenden Sonnenstrahl abschirmen. Aber ich hatte es schön beim Weg in die Ordi und kriegte auch immer wieder glaubhaft versichert, wie traumhaft es draußen wäre. Also noch ein Grund, sich über den Balkon abzuseilen.

F wie Fluchtgedanken

Aber das war es ja alles nicht. Ich kann gut leben mit Hektik, mit viel zu großem Arbeitspensum und mit viel mehr Menschen, als ich jemals kennenlernen wollte. Womit ich nur sehr schwer leben kann, ist, wenn selbige sich nicht an die Spielregeln halten. Die da lauten: Terminpraxis, im Akutfall gibt’s auch Termin am selben Tag. Dann gibt’s auch keine bis kaum Wartezeiten. Wenn man aber glaubt, man steht einfach leidend in der Tür und wird sofort auf Händen an allen anderen vorbei in mein Sprechzimmer getragen, hat man Pech gehabt. Alles, was nicht nach Schlaganfall oder Myokardinfarkt aussieht, kann dann warten. Nur sahen das die Patienten anders. Völlig wurscht, ob Pensionist oder überarbeitete Richterin, ob akuter Infekt oder Kreuzweh seit dem Kindesalter. Jeder Zweite keifte mich bösartig an. Bis ich wie gesagt um 10.30 Uhr gerne aus dem Fenster gestiegen wäre.

Natürlich konnte ich die Beste aller Assistentinnen nicht alleine lassen und bin bis zum bitteren Ende um halb zwei dageblieben. Danach haben wir uns ein paar Minuten lang gegenseitig gratuliert, wie tapfer wir wären und wie stolz wir auf uns sein könnten. Offensichtlich hatte sie heute auch ihr Fett abbekommen. Da es ein strahlend schöner Tag war, keine Hausbesuche zu machen waren und eigentlich auch keine Kolumne für die Medical Tribune auf dem Programm stand, erhob mein schlechtes Gewissen seinen spitzen Zeigefinger und erinnerte mich: „Du musst unbedingt und dringendst die Fenster putzen.“ Und das ist eine titanische Aufgabe. Wir haben bei 120 Quadratmetern Wohnung praktisch keine Wand, um Couch und Kasten hinzustellen, denn wir haben fussballfeldgroße Fensterflächen. Und die sind mittlerweile fast blickdicht. Und all die netten Witzchen wie: „Man sollte keine Fenster putzen, denn Privatsphäre ist wichtig“ oder auch „Fenster sollte man nur putzen, wenn man schöne Nachbarn hat“ ziehen nimmer.

cartoon_fenster

Also denke ich mir: Schlimmer Arbeitstag, geplantes Fensterputzen. Was tue ich mir Gutes? Und wie so oft nach schlimmen Arbeitstagen will ich in die Videothek am Eck gehen, mir einen netten Film ausborgen, der mich heute Abend in eine heile Welt oder ein atemberaubendes Abenteuer entführt. Aber nix da. Geschlossen. Freundin P. hatte vor ein paar Tagen schon zu mir gesagt: „Welcher Dodl außer dir borgt noch Videos aus, wenn man jeden Film mit einem Mausklick bekommt?“ Ja, welcher Dodl außer mir? Offenbar nicht genug Dodln, denn sonst wäre die Videothek nicht eingegangen. Ich hatte sie gemocht. Erstens war es ein bisschen wie mit Kleidung shoppen. Ich will nicht online bestellen, ich will durchschmökern und sehen, was es alles so gibt.

Dann gab’s da die Video­frau, die wusste, was ich gerne sah, und immer wieder mal einen Geheimtipp parat hatte und mit der man einfach ein paar Worte tratschen konnte. Woher soll ich jetzt wissen, was ich mir ansehen kann oder möchte? Ins Kino komme ich kaum, denn ich habe nie Zeit dazu, und was sonst noch so läuft, geht oft an mir vorbei. Außerdem finde ich das zum Kotzen, dass schon wieder ein kleiner Laden stirbt. Ich bin gut fähig, mir etwas aus dem Internet zu bestellen, wenn ich es nicht anders bekomme, z.B. meinen Lieblingsduft, eine spanische Marke, derzeit vergriffen und nur noch in England zu finden. Aber ich will richtige Geschäfte, mit richtigen Sachen drin zum Angreifen, Anschauen und richtigen Menschen, um beraten zu werden. Ich will kein Leben auf Mausklick und in einer Geisterstadt wohnen, in der die Läden dicht sind und alle nur mehr am PC hocken. Ich mache uns jetzt eine Flasche Chianti auf, und dann geh ich ums Eck zum Kebab-Türken und hol uns eine seiner superguten Pizzen. Denn wer weiß, wie lange der noch da ist.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune