30. Nov. 2022«Viele scheitern am Abstinenz-Imperativ»

Suchtforscher Prof. Heino Stöver über Strategien zur Rauchentwöhnung

Für den deutschen Suchtforscher Professor Dr. Heino Stöver, Direktor des Instituts für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences, reichen die derzeit verfügbaren Strategien zur Rauchentwöhnung nicht aus, um dem riesigen epidemiologischen Problem des Tabakrauchens Herr zu werden. Er kämpft für Zwischenschritte auf dem langen Weg zur Nikotinabstinenz.

Herr Prof. Stöver, Sie machen sich gegen ein Schwarz-Weiss-Denken in Bezug auf alternative Rauchprodukte stark. Wie sind Sie dazu gekommen?

Das Konzept der Risikominimierung hat mich durch meine gesamte berufliche Karriere begleitet. Aus meiner Erfahrung – etwa mit der Abhängigkeit von Opioiden – weiss ich, dass bei der Suchtentwöhnung schadensminimierende Zwischenschritte essenziell sind. Opioidabhängigen Menschen hat die Suchtmedizin beispielsweise durch Substitutionsprogramme geholfen, ihre Lebensqualität während dem Entzug ein Stück weit zu erhalten. Natürlich hätten wir stattdessen auch trotzig auf den Boden stampfen und sagen können: «Sie sollen aber damit aufhören, sich Drogen zu spritzen.» Wir können aber nicht davon ausgehen, dass Menschen zu jedem Zeitpunkt bereit, in der Lage oder willens sind, ein gesundheitsschädliches Verhalten, das durch eine Abhängigkeit bedingt ist, zu unterlassen.

Aus meiner täglichen Arbeit weiss ich, dass die aktuellen Rauchentwöhnungstechniken an ihre Grenzen stossen. Ich fordere daher bereits seit einigen Jahren, dass das Konzept der Zwischenschritte auch auf das Rauchen übertragen wird. Wir diskutieren so viel über Opioide, Cannabis oder Kokain – und das ist ja alles auch richtig und wichtig. Aber in Deutschland sterben jährlich 127 000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Rauchens. Angesichts der epidemiologischen Wucht, die die Tabaksucht darstellt, sollte man dieses Problem ernst nehmen.

Heino Stöver
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Prof. Heino Stöver ist Suchtforscher und macht sich gegen ein Schwarz-Weiss-Denken in Bezug auf alternative Rauchprodukte stark.

Neue Gerätschaften zur Nikotinaufnahme wie E-Zigaretten und Tabakerhitzer, bei denen das gesundheitliche Risiko massiv reduziert ist, würden die derzeitigen Rauchentwöhnungsoptionen erweitern, um potenziell mehr Menschen anzusprechen. E-Zigaretten gibt es jetzt aber schon seit mehr als zehn Jahren, und die bisherigen Rauchentwöhnungsprogramme haben diese mehr oder weniger weiträumig umfahren. Seit fünf Jahren bin ich Mitorganisator von Konferenzen und wissenschaftlichen Beiträgen, im Zuge derer ich mit anderen Experten die Integration von alternativen Rauchprodukten beim Rauchstopp auslote und diskutiere.

Aus Ihrer Erfahrung als Suchtforscher – warum glauben Sie, funktioniert die Rauchentwöhnung so schlecht?

Die Rauchentwöhnungsprogramme, die wir jetzt haben, erreichen viele Menschen nicht. Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass die aktuell empfohlene Strategie die Verhaltenstherapie in Kombination mit Nikotinersatzprodukten ist. Die Verhaltenstherapie hat einen hohen Verbalisierungsanteil und ist relativ stark mittelschichtsorientiert; aus diesem Grund spricht sie viele Menschen überhaupt nicht an. Auch bei Broschüren – etwa den aktuell in Deutschland an Raucher verschickten Empfehlungen zum Rauchstopp – gibt es wenig Spezifizierung für unterschiedliche Zielgruppen, etwa für Jüngere oder Ältere, Menschen mit Migrationshintergrund oder Sprachschwierigkeiten. Es ist eine «One size fits all»-Herangehensweise, die keine Lösung, sondern eher eine pflichtschuldige Antwort ist auf die Herausforderung, die das Rauchen darstellt.

Ein weiteres Problem der derzeitigen Methoden ist, dass Menschen ihr Rauchverhalten zuerst einmal als krank einstufen müssen, um zum Arzt zu gehen oder sich in der Apotheke Nikotinersatzprodukte zu kaufen. Viele Raucher empfinden ihren Tabakkonsum aber nicht als gestört, sondern eher als ambivalent. Für sie hat das Rauchen auch Vorteile. Andererseits kennen die meisten Raucher die Risiken des Rauchens durchaus. Laut deutscher Suchthilfestatistik hören rund 75 % der Menschen mit der Schlusspunktmethode, also ohne Inanspruchnahme professioneller Hilfe, auf. Das ist auch dadurch begründet, dass viele Menschen den Autonomieverlust ablehnen, den es für sie darstellt, wenn sie um Hilfe bitten müssen. Leider ist diese Methode nicht besonders nachhaltig – sonst hätten wir längst eine viel geringere Rauchquote.

Wie funktionieren alternative elektrische Nikotinprodukte?

Das Problem bei der klassischen Tabakzigarette ist nicht das Nikotin, sondern die gesundheitsschädlichen Produkte, die infolge der Verbrennung von Tabak gebildet werden. Toxikologische Risikoeinschätzungen gehen davon aus, dass E-Zigaretten, bei denen nikotinhaltige Flüssigkeiten («Liquids») erhitzt werden, wesentlich weniger schädlich sind als die klassische Verbrennungszigarette. Sie scheinen in ihrer potenziellen Schädlichkeit näher an den Nikotinersatzprodukten zu stehen.

Das Rauchen ist für Raucher nicht nur ein Genuss, sondern strukturiert für viele Menschen auch den Alltag, erhöht ihre Funktionalität und fördert den sozialen Zusammenhalt mit anderen Rauchern. Zudem ist die Abhängigkeit von Nikotin eine schwierige und hartnäckige Sucht, die Menschen häufig ihr Leben lang, von der ersten Zigarette morgens bis zur letzten am Abend, begleitet. Stellen Menschen das Rauchen ein, müssen sie ihren gesamten Alltag neu erfinden, und immense Einbussen in der Lebensqualität hinnehmen. Viele sind daher eher bereit, sich auf einen Rauchstopp einzulassen, wenn sie eine E-Zigarette als Ersatz angeboten bekommen, die ähnlich haptisch, olfaktorisch und oral ist wie die Verbrennungszigarette. Deren Anwendung muss man am Anfang zwar erst erlernen – die Umstellung von der Verbrennungszigarette auf die E-Zigarette ist aber ein ungleich weniger radikaler Schritt als die Umstellung auf Nikotinersatzprodukte wie den Nikotinkaugummi.

Nach dem Umstieg sind Menschen erst einmal über das Nikotin von der E-Zigarette abhängig; das ist aber nicht das vorrangige Problem, da die Menschen ja auch schon vorher abhängig waren. Ziel der drogenpolitischen Überlegung des Nikotinersatzes ist es im Endeffekt, dass die Ex-Raucher schlussendlich aus den alternativen Rauchprodukten ebenfalls wieder aussteigen. E-Zigaretten und Tabakerhitzer sind sozusagen der Anstoss, in Richtung Abstinenz zu gehen. Aber auch hier kann man nicht einfach aufstampfen und sagen: «Ihr müsst aufhören.» Das wissen die meisten Leute selbst.

Welche und wieviele Raucher, schätzen Sie, erreicht man mit alternativen Produkten?

Viele scheitern am Abstinenz-Imperativ, und haben schon eine lange Tabakkarriere sowie mehrere erfolglose Versuche des Aufgebens hinter sich: Bei diesen Rauchern ist ein Umstieg auf E-Zigaretten oder Tabakerhitzer wahrscheinlich sinnvoll. Meistens sind diese Menschen im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt und tägliche Raucher – also sicher keine Jugendlichen oder Gelegenheitsraucher.
Wir schätzen, dass in Deutschland schon mehrere Millionen Menschen auf diese E-Devices umgestiegen sind – aber genaue Zahlen kennen wir nicht, weil es dazu wenig nationale Daten gibt. Genauso wenig wissen wir, wie hoch der Anteil derer ist, die über das Dampfen ganz ausgestiegen sind. In Deutschland werden diese Themen wenig beforscht.

Welche Botschaft würden Sie Ärzten mitgeben, die sich bei der Rauchentwöhnung engagieren?

Eine gute Rauchentwöhnung fokussiert sich auf die Gesundheits- und nicht auf die Krankheits-Aspekte, und fängt meiner Meinung nach bereits bei der Rauchanamnese an. Hat der Patient bereits einmal versucht aufzuhören? Wenn ja, wie lange? Und was waren die Faktoren, die ihm dabei geholfen haben? Gibt es solche positiven Episoden in seiner Geschichte, sollte man unbedingt daran anknüpfen. Menschen, die schon einmal aufgehört haben vergessen oft, dass sie etwas Grosses geschafft haben, auch wenn sie danach wieder rückfällig geworden sind. Wenn der Arzt sagt: «Sie haben es ja schon einmal geschafft, für drei Monate aufzugeben. Wie haben Sie das geschafft?» legt er das Hauptaugenmerk auf etwas Positives und pathologisiert den Patienten nicht.

Ausserdem sollten Ärzte über die diversen Hilfsmittel Bescheid wissen, und diese dem Patienten erklären können: Welche Medikamente gibt es, organisiert die Krankenkasse zum Beispiel lokale Verhaltenstherapie-Abende oder Selbsthilfegruppen? Auch Rauchstopp-Hotlines, Apps oder das Buch «Endlich Nichtraucher» von Allen Carr sind Optionen, mit denen viele Menschen das Rauchen bereits erfolgreich hinter sich gelassen haben. Dann sollte man den Patienten aktiv entscheiden lassen: Was will ich ausprobieren?

In den letzten 20 Jahren sind die Raucherzahlen stark gesunken, seit einigen Jahren scheint aber ein Plateau erreicht. Warum glauben Sie ist das so?

Wir haben in Deutschland dramatische Rückgänge in der Gruppe der 12 bis 17-jährigen, wo die Raucherfahrung nur mehr ein Drittel von vor der Zeit vor 20 Jahren beträgt. Aber auch bei den 18- bis 25-jährigen gibt es einen leichten Rückgang. Dagegen sind die Werte bei den über 25-jährigen stabil hoch, und in diesen Altersgruppen gibt es wenig Bewegung. Das zeigt auch, dass diese Altersgruppen sich von Rauchstoppinterventionen relativ wenig angesprochen fühlen, beziehungsweise zu wenig angesprochen werden.

Ausserdem gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Rauchprävalenz und der Ausgestaltung der politischen Kontrolle. Wenn man sich den Tabakkontrollatlas für Europa ansieht, sind Österreich, Deutschland und Schweiz auf den letzten Plätzen. Deutschland hat zum Beispiel mit rund 28 % Raucherquote bei der erwachsenen Bevölkerung einen relativ hohen Anteil. Auf Platz eins des Tabakkontrollatlas stehen dagegen jene Länder, die im Gegensatz zu Deutschland von der WHO empfohlene Massnahmen zur Tabakkontrolle umgesetzt haben – unter anderem das Vereinigte Königreich, mit einer Rauchprävalenz von 13,7 %, also exakt der Hälfte. Das Vereinigte Königreich hat in diesem Score, bei dem man 100 Punkte erreichen kann, 80 Punkte erreicht, während Deutschland nur auf 40 Punkte kommt.

Ein weiterer Grund dafür ist auch, dass in Deutschland der Zugang zu Zigaretten so leicht ist. Wir alle sind in unseren Lebensräumen permanent Aufforderungen ausgesetzt, die Konsequenzen auf unser Verhalten haben. Wir Deutschen sind Weltmeister im Zigarettenautomaten-Aufstellen: Wir haben davon aktuell 340 000 Stück, die oft einfach zum Stadtbild dazugehören – sie sind mehr oder weniger eingebaut, oder mit Graffiti verziert. Dadurch wird auch ihr Inhalt banalisiert, und die falschen Signale ausgesandt: Das Rauchen gehört einfach dazu. Auch die Aussenwerbung ist in Deutschland noch bis 2024 erlaubt, danach soll sie ganz abgeschafft werden – auch für E-Zigaretten.

Tipp: Der Ratgeber: Umsteigen, Einsteigen, Aussteigen, der aktuell bereits in der dritten Auflage von Prof. Stöver herausgegeben wird, gibt Rat zum Umstieg von der Verbrennungszigarette auf alternative Produkte, und zum Ausstieg aus diesen. Er ist auf Amazon als E-Book-erhältlich.

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