13. März 2019Projekt „Village“ in Tirol

Tiroler Projekt für Kinder mit psychisch kranken Eltern

Kinder von Eltern mit einer psychiatrischen Erkrankung müssen vielfach Elternrollen übernehmen. Das Projekt „Village“ will bis 2022 in Tirol ein Netzwerk aufbauen, das diese Kinder unterstützt und entlastet. (Medical Tribune 11/19)

Kinder von Eltern mit psychiatrischen Erkrankungen erfahren wenig Förderung.

„It takes a village to raise a child“ („Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“) lautet ein aus Afrika stammendes Sprichwort. Das Projekt „Village“ bezieht sich auf dieses Sprichwort und hat sich zum Ziel gesetzt, Kinder psychisch erkrankter Eltern besser zu unterstützen. In Tirol wird seit Februar 2018 an einem auf vier Jahre angesetzten Pilotprojekt gearbeitet. Projektträger sind die Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG) und die Medizinische Universität Innsbruck (MUI). Projektleiterin ist die aus Australien stammende Dr. Jean Paul, Sozialwissenschaftlerin mit dem Spezialfach Linguistik: „Ich schaue darauf, wie Menschen im Gesundheitswesen sprachlich miteinander agieren, insbesondere Kinder betreffend. Welche Worte werden verwendet, welche Stigmata gibt es in der Konversation“, fasst Paul ihre bisherige Arbeit in ihrem Heimatland zusammen.

Beste Voraussetzungen für das Projekt in Tirol

Bei der Suche nach einer Host-Universität für das Projekt hatte es sich als Vorteil erwiesen, dass mit Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Fleischhacker der MUI ein Psychiater vorsteht, erläutert Paul im MT-Gespräch. Tirol mit seiner vielfach noch dörflichen Struktur stand für sie und ihr Team als mögliches Projektgebiet schon vorab im Fokus. Als eine der größten Herausforderungen betrachtet es Paul, Kinder aufzuspüren, deren psychisch kranke Eltern (bzw. kranker Elternteil) nicht in psychiatrischer Behandlung sind. „Kinder mit solchen Eltern sind oft sozial isoliert. Diese Eltern haben wenig Ressourcen, ihre Kinder zu fördern und zu unterstützen, weshalb diese Kinder eine benachteiligte Position haben“, betont Paul.

Hausärzte sollen eine besondere Rolle spielen

„Wir möchten aus Sicht der Kinder verstehen, was sie wirklich brauchen.“
Dr. Jean Paul

Weil sich die Stigmata in verschiedenen Gemeinschaften und Kulturen stark voneinander unterscheiden, ist es Paul ein Anliegen, die spezifische Rezeption psychischer Erkrankungen in Tirol zu verstehen. Von vornherein war klar, dass beim Ziel von „Village“ niedergelassene Ärzte und insbesondere Hausärzte eine besondere Rolle spielen sollen. Ärzte haben Beziehungen zu ihren Patienten und sie können auch unterstützend wirken, Kinder mit einem entsprechenden Risiko zu finden, betont Paul: „Insgesamt muss der Fokus darauf gerichtet werden, wer einem betroffenen Kind helfen kann. Was kann deren Leben leichter und fröhlicher machen? Wie kann man Kindsein in dieser Situation unterstützen?“

Dabei könne es aufgrund der bestehenden Tabus nicht darum gehen, „dem Dorf bekannt zu machen, was vor sich geht“, sondern von Fall zu Fall mit den Familien zu arbeiten. „Man geht nicht zum Fußballtrainer und sagt, dieses Kind hat ein Problem mit psychisch kranken Eltern“, bringt Paul die geplante Herangehensweise auf den Punkt, dennoch könne z.B. ein Trainer in einem Unterstützungskonzept eine wichtige Rolle einnehmen. In einer inzwischen abgeschlossenen Projektphase wurde untersucht, welche bestehenden Angebote existieren, wie dabei zusammengearbeitet wird und welche Methoden zur Anwendung kommen. Dabei zeigte sich, „dass es bereits ein großes Potenzial an professionellen Angeboten gibt, die zuerst genutzt werden können, bevor neue Dienste oder Programme geschaffen werden.“

Beginn mit der Vernetzung bestehender Angebote

Die große Vielfalt relevanter Angebote und ihre unterschiedlichen finanziellen und rechtlichen Regelungen werden allerdings „erhebliche Herausforderungen für die Koordination und Organisation einer individualisierten Unterstützung auf der Grundlage der Bedürfnisse der Kinder und Eltern mit sich bringen“, heißt es im Projektbericht. Allerdings richtet sich nur einer der bestehenden Dienste direkt an Kinder psychisch kranker Eltern, überdies ist dieses Angebot auf zwei von neun Tiroler Bezirken beschränkt. Als limitierende Faktoren werden Zugangseinschränkungen und geografische Unterschiede genannt. Als potenzielle Ressource wurden ehrenamtliche Aktivitäten (etwa Selbsthilfegruppen) identifiziert. Dieses Zwischenergebnis macht auch deutlich, warum Projektleiterin Paul die Frage nach einem benötigten Gesamtbudget für das Projekt ebenso unbeantwortet lässt wie eine Abschätzung künftiger Kosten nach einer Implementierung von „Village“.

Im November 2018 hat eine Serie von Workshops begonnen, die Fachkräfte aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich sowie Eltern mit einer psychischen Erkrankung bzw. ehemals betroffene Kinder vereint. Ziel der sechs bis April 2019 geplanten Workshops ist es, gemeinsam mit dem „Village“-Team konkrete, praxisorientierte Programme zu entwickeln. „Wir möchten aus Sicht der Kinder verstehen, was sie wirklich brauchen“, formuliert Paul den zentralen Blickwinkel des Projekts. Anhand von Daten der Tiroler Gebietskrankenkasse (TGKK) wurde versucht, die Zahl der Betroffenen einzugrenzen. Insgesamt erhielten 2017 rund 86.000 TGKK-versicherte Patienten mindestens eine Leistung aus dem psychiatrischen Leistungsspektrum.

Dies entspricht 14,5 Prozent aller Versicherten. Fünf Prozent der Patienten waren jünger als 19 Jahre, etwa 60 Prozent waren zwischen 19 und 64 Jahre alt, gut ein Drittel war älter als 64 Jahre. Zwei Drittel der Personen waren Frauen. Patienten, die potenziell Eltern eines minderjährigen Kindes sind – also die Altersgruppe 19 bis 64 Jahre –, erhielten fast alle einschlägige Medikamente. Besonders auffallend dabei ist, dass fast 90 Prozent dieser Medikamente von Allgemeinmedizinern verschrieben wurden und nur fünf Prozent über psychiatrische Stationen.

Aus der Sicht des „Village“-Teams wird dadurch die Bedeutung von Allgemeinmedizinern für das Projekt unterstrichen, wenngleich davon auszugehen ist, dass über die psychiatrischen Stationen die schwerwiegenderen Fälle versorgt werden und dieser Personenkreis höchstwahrscheinlich den höheren Unterstützungsbedarf für sich bzw. die betroffenen Kinder hat. Eine zu Projektbeginn kolportierte Zahl von 3.000 Tiroler Familien, in denen Kinder aufgrund der psychiatrischen Erkrankung von Eltern deren Aufgaben (teilweise) übernehmen müssen, lässt sich aufgrund obiger Zahlen weder bestätigen noch widerlegen.

Evaluation des Einflusses auf die Kinder

Um das Ziel zu erreichen, Kinder zu entlasten und damit nicht zuletzt vorbeugend psychische Erkrankungen zu vermeiden, soll im Laufe des Jahres 2019 mit der Schulung von Fachkräften und der Implementierung des ausgearbeiteten Konzepts begonnen werden. Bei der abschließenden Evaluation soll der positive Einfluss auf die Kinder untersucht werden. „Während wir letztlich natürlich an Langzeitergebnissen interessiert sind, wird der Fokus der Evaluation auf Ergebnisse sein, die kurzfristig messbar sind, aber einen Einfluss auf Langzeitergebnisse haben“, heißt es in einem Arbeitspapier. Beispielhaft werden dafür Größen wie das Selbstbewusstsein des Kindes, Vertrauen in soziale Beziehungen, aktives Hilfesuchen, Zeit, seinen eigenen Interessen nachzukommen, und empfundene Belastung genannt. Bemerkenswert ist die Internationalität des von Jean Paul geleiteten „Village“-Teams. Neben den Mitarbeitenden vor Ort gibt es für spezifische Fragestellungen Experten, die quer über den Globus (Oxford, Melbourne, Pakistan etc.) zum Erfolg des Projekts beitragen sollen.

Das Projekt

Weitere Informationen und Materialien der Forschungsgruppe „Village“ der Ludwig Boltzmann Gesellschaft in Kooperation mit der Medizinischen Universität Innsbruck finden Sie unter: www.village.lbg.ac.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune