19. Okt. 2018

Gut vernetzte Pioniere der Primärversorgung

Es muss nicht immer ein Zentrum sein: Im Sommer öffnete im Bezirk Steyr-Land das erste Primärversorgungsnetzwerk Österreichs. An drei Standorten versorgt das interdisziplinäre Team die Patienten. Die ersten Erfahrungen sind positiv, jetzt geht es an die Feinabstimmung. (Medical Tribune 42/18)

Serie: Jungärzte im Porträt
Junges Blut für Österreichs Kassenpraxen: Warum entscheiden sich junge Mediziner nach ihrer Ausbildung für die Selbstständigkeit? Und wie kommen sie damit klar? Medical Tribune stellt im Rahmen einer Serie junge Haus- und Facharztkollegen mit eigener Ordination vor.

In Oberösterreich konnte am 2. Juli 2018 bereits die vierte Primärversorgungseinheit (PVE) ihre Pforten öffnen. Es handelt sich nicht um ein Zentrum (PVZ), wie in Enns, Marchtrenk und Haslach, sondern um ein Netzwerk (PVN) mit drei Standorten: Neuzeug, Sierning und Waldneukirchen (siehe Kasten). Das „PVN Neuzeug-Sierning“ firmiert als Ärzte-GmbH, die in ein „Gesundheitsnetzwerk“ eingebettet ist. Zu diesem gehört auch die „Steyrtalapotheke“ in Neuzeug, gleich nebenan vom PVN. In vielen Gesprächsrunden mit den (ober)österreichischen Systempartnern habe man die Rolle der Apotheker in einer „wohnortnahen, extramuralen Versorgung“ diskutiert und auch sehr eng mit der Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin (OBGAM und ÖGAM) zusammengearbeitet, erzählt Mag. Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr, Besitzerin der Steyrtalapotheke und nunmehr Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer. Auf Sierninger Ebene trage ein monatlicher Ärzte-Stammtisch, mitorganisiert von Allgemeinmediziner Dr. Walter Binder, zu dem „sehr engen interdisziplinären Austausch“ bei.

Ordi zusperren? Nein!

Vor zwei Jahren kam es, wie in so vielen Gegenden, zu Nachbesetzungsproblemen, als Hausarzt Binder in Pension gehen wollte. Sogar das Zusperren einer der vier §-2-Ordinationen in der Region Sierning stand im Raum. „Doch anstatt zu jammern, wie schlimm die Zeiten sind, haben wir gesagt: Probieren wir eben einen neuen Weg“, schildert Mursch-Edlmayr. Auch die anderen regionalen Ärzte wurden von Anfang an eingebunden – „dann ist das Netzwerk einfach gewachsen“. Das PVN hat insgesamt 63,5 Stunden offen. Statt vier gibt es nun 4,5 Kassenstellen, also eine halbe Stelle mehr als vorher. Diese bekam eine junge Ärztin, Dr. Katharina Freidhager, die vorher noch keinen Kassenvertrag hatte und von Binder für das PVN begeistert werden konnte.

Er selbst reduzierte seine Stelle um ein Viertel, sodass beide nun jeweils eine 0,75er-Stelle haben. Ohne das auf fünf Jahre angelegte Pilotprojekt gäbe es auch die Ordination von Dr. Rita Brandstetter in der 2200-Seelen-Gemeinde Waldneukirchen nicht mehr, weil sie zu klein zum Leben sei, berichtet Wolfgang Gruber, der Geschäftsführer des PVN. Die Ärztin hätte zusperren müssen, nun hat sie eine halbe Stelle nach Neuzeug verlegt. Via Intranetleitung sind alle Standorte miteinander verbunden. Alle Ärzte würden aus dem gleichen Datenstand in die gleiche EDV hineinarbeiten, erklärt Gruber den Unterschied zu anderen Netzwerken: „Wir sind quasi ein einziger Arzt mit mehreren Köpfen.“ Die Honorare werden derzeit wie in einer Gruppenpraxis abgerechnet. Man versuche aber, doch noch ein Pauschalmodell so wie in Enns umzusetzen, „weil das viel Stress herausnähme“.

„Habe jetzt einen freien Tag“

Vorteile seien die höhere Lebensqualität und das einfachere Zusammenarbeiten in der Betreuung von Patienten, meint Dr. Willi Eisner gegenüber Medical Tribune. Der junge Arzt ist gerade mit seiner Ordination fertig und fährt in wenigen Minuten auf Visite: „Ich habe jetzt einen freien Tag – den hatte ich vorher nicht –, außerdem komme ich früher heim.“ Das Administrative, Organisatorische werde einem abgenommen, „damit man nicht bis spät am Abend sitzt“. Seinen Patienten, die er weiterhin als Hausarzt betreut, gefalle es „im Großen und Ganzen sehr gut, weil immer ein Arzt da ist“. Seine eigene Zufriedenheit mit dem PVN beziffert er mit den Schulnoten „Gut“ bis „Sehr Gut“. Natürlich gebe es „Geburtswehen“, überlegt er, „und auch das Zusammenarbeiten mit anderen Berufsgruppen ist neu für mich“.

Gerade vorhin habe er aber zum ersten Mal eine multimorbide Patientin, leicht dement und mit offenen Beinen, an die Sozialarbeiterin des PVN delegiert. Die Herausforderung: Die Patientin lehne die Betreuung durch eine Hilfsorganisation ab, er könne aber nicht jeden zweiten Tag zu ihr fahren. Nun versuche die Sozialarbeiterin einen Heimplatz für sie zu finden (vorbehaltlich einer Pflegegelderhöhung), damit sie gut versorgt ist. Möglicherweise werde er auch eine Diplomkrankenschwester vom PVN hinschicken. „Ich bin sehr froh, dass wir die zusätzlichen Berufsgruppen gleich da vor Ort haben“, resümiert Eisner. Denn in dem speziellen Fall hätte die Situation sonst in einen „Telefonterror“ ausarten können. Die nicht-medizinischen Gesundheitsberufe sind Angestellte des PVN. Deren Gehälter und sonstige Zusatzleistungen (565.000 Euro jährlich) teilen sich das Land OÖ und die Sozialversicherung. Außerdem gab es eine einmalige Anschubfinanzierung für Umzug und EDV in der Höhe von 90.000 Euro. Im Gegensatz zu Enns und Marchtrenk, wo Gruber ebenfalls Geschäftsführer ist, zahle die GKK jedoch keinen Mietzuschuss.

Das PVN müsse die Miete für fast 600 m2, in denen z.T. auch die Therapeuten arbeiten, selbst berappen. Die Gesundheitsberufe – mit Ausnahme der DGKS – haben erst mit September im PVN zu arbeiten begonnen. Die Psychotherapeutin war schon an ihrem zweiten Arbeitstag für die nächsten 14 Tage ausgebucht. Die Ärzte hätten mittlerweile gelernt, gewisse Tätigkeiten zu delegieren, z.B. Wundversorgungen und Infusionsserien an diplomiertes Personal, berichtet Gruber. Und wenn sie mit dem Patienten zur Sozialarbeiterin oder zum Physiotherapeuten hinübergehen, fühle sich der Patient weiterhin „in der ärztlichen Obhut“. Der Therapeut seinerseits kann sofort rückmelden, wenn ihm etwas auffällt. Insgesamt funktioniere die Zusammenarbeit mit den anderen Berufsgruppen bisher „gut“, lediglich bei der Abstimmung der Arbeitsprozesse eckt es laut Gruber noch da und dort. Kein Wunder: Die Ärzte seien bis Ende Juni Einzelunternehmer gewesen.

Ehrlichkeit von Anfang an

Worauf sollen Kollegen achten, die sich ebenfalls für eine PVE interessieren? „Wichtig ist, sich selber einzubringen. Man muss seine Ziele klar formulieren – von Beginn an“, sagt Eisner. Ähnlich Gruber: „Das Wichtigste ist, dass die gründenden Ärzte wirklich von Anfang an ehrlich zueinander sind.“ Es habe wenig Sinn, wenn der eine beruflich „Vollgas“ geben möchte und der andere mehr auf Lebensqualität setze. Und man solle sich jemand suchen, der die PVE leite, damit die Ärzte wirklich einer „selbstständigen Tätigkeit“ nachgehen können, ohne den bürokratischen Aufwand zu haben. Die Team-Findung sei ebenfalls immens wichtig: In Enns z.B. habe man sich von den ersten Krankenschwestern trennen müssen, weil sie sich über die anderen Berufsgruppen hinweggesetzt hätten, auch über die Ärzte. Nun funktioniere das PVZ wieder reibungslos. Das Feedback aus der Bevölkerung sei unterschiedlich: Die Neuzeuger sehen das PVN sehr positiv, weil sie nicht mehr nach Sierning fahren müssen, die Sierninger sind teilweise verschnupft, weil sie jetzt nach Neuzeug fahren müssen. „Das sind Begehrlichkeiten auf sehr hohem Niveau, die meisten vergessen aber, dass es ohne PVN einen Arzt weniger in der Gemeinde gäbe.“ Das müsse erst „sickern“, gibt sich Gruber aus Erfahrungen von Enns etwas „abgebrühter“. Dort sei er das erste Dreivierteljahr „echt verzweifelt“ gewesen, weil die Ennser das PVZ lange mit Argusaugen betrachtet hatten.

Klinische Pharmazeutin

Seit Kurzem ist das Gesundheitsnetzwerk noch enger geknüpft: „Wir haben mit Oktober in der Apotheke eine weitere Pharmazeutin eingestellt, die über eine Zusatzausbildung als Klinische Pharmazeutin verfügt sowie langjährige Berufserfahrung aufweist“, berichtet Apothekerin Mursch-Edlmayr. Die Klinische Pharmazeutin steht allen Patienten u.a. für Spezialfragen im Bereich Polypharmazie zur Verfügung. „Mit ihrer Expertise ist sie eine wertvolle Bereicherung für unser Team“, freut sich die Apotheken-Chefin. Sie sieht diese neue Form der Zusammenarbeit auch als „Lernprozess für alle Beteiligten“. Binder, der PVN-Initiator auf der ärztlichen Seite, braucht sich übrigens um seine Nachfolge keine Sorgen mehr zu machen, wenn er dann tatsächlich in Pension geht. Bereits jetzt, dreieinhalb Monate nach dem Start des PVN, gibt es Interessentinnen für seine Stelle.

Steckbrief

Im „PVN Neuzeug-Sierning“, das 63,5 Stunden in der Woche offen hat, arbeiten fünf Ärzte – Dr. Walter Binder, Dr. Rita Brandstetter, Dr. Willi Eisner, Dr. Katharina Freidhager und Dr. Karin Gsöllradl – an drei Standorten (zirka 11.600 Einwohner), unterstützt von Ordinationsassistentinnen, DGKS, Diätologie, Psychotherapie, Physiotherapie, Sozialarbeit, Logopädie, Reinigung.

Neuzeug (Zentrum des Netzwerks):
Josef Teufel Platz 2, 4523 Neuzeug
Öffnungszeiten: Mo, Di: 7–20, Mi 7–19.30, Do 7–17, Fr 7–19 Uhr
(Dr. Binder und Dr. Brandstetter an drei Tagen, Dr. Eisner und Dr. Freidhager an vier Tagen)

Ordination Sierning/Dr. Gsöllradl (3 km entfernt):
Josefsheimgasse 9, 4522 Sierning
Öffnungszeiten: Mo 7.30–11.30, Di 7.30–12.30, Do 7.30–11.30 und 17–20, Fr 10–14 Uhr

Ordination Waldneukirchen/Dr. Brandstetter (10 km entfernt):
Dorfplatz 1, 4595 Waldneukirchen
Öffnungszeiten: Mo 7.30–11.30, Mi 14–17, Fr 8–11 Uhr
www.pvn-neuzeug.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune