30. Mai 2018

Komm lieber Mai und mache …

Ich habe im Laufe der letzten Jahre eine Hassliebe zum Monat Mai entwickelt. Ich liebe ihn, weil er so viele Feiertage hat, weil meine Rosen auf der Terrasse endlich wieder blühen und weil unsere standesamtliche Hochzeit im Mai war und wir deshalb etwas zu feiern haben. Und weil ich mir zwar jedes Jahr schwöre, keine neuen Pflänzchen zu setzen, ich aber dann regelmäßig mit allen möglichen essbaren und nicht essbaren Kräutln und Pflanzerln heimkomme und begeistert in Erde wühlen kann. Aber ich hasse ihn, weil die vielen wunderbaren Feiertage und Fenstertage zusammengenommen einfach eine ganze Arbeitswoche fressen.

Blöderweise fressen sie nur Zeit und lassen die Arbeit über. Also muss alles, was in einem normalen Monat so einigermaßen organisiert und erledigt werden kann, in die paar mickrigen Maiarbeitstage zwangsgestopft werden. Und da ich auch in einem normalen Arbeitsmonat nicht wirklich über Unterbeschäftigung klagen kann, macht der Mai einfach nur Stress. Und das unter besten Bedingungen. Was aber macht die liebe Frau Doktor, wenn es mit den Bedingungen auch nicht zum Besten steht? Nehmen wir mal den Montag nach dem ersten langen Wochenende. Wir haben zusätzlich noch eine Vertretung und ganz viele eigene Patienten sind bestellt. Schneller reden, schneller arbeiten und schneller tippseln ist das von mir herausgegebene Motto des Tages. Um zirka 9:00 Uhr will eine Harnprobe ausgewertet werden. Und dabei stellen wir fest, dass es kein Wasser im Klo gibt. Und dann finden wir heraus, dass es in der ganzen Ordination kein Wasser gibt.

Böses ahnend, da wir vor unserem Haus eine Baustelle haben, lasse ich nachfragen. „Ja, wir haben das Rohr angegraben“, lautet die lapidare Erklärung. Und das haben sie offenbar auch gründlich gemacht, denn Wasser haben wir erst wieder lange nach Ordinationsschluss. Also müssen alle, die Pinkelpröbchen, Verbandwechsel oder Stuhltests brauchen, zum Nachbardoktor pilgern. Nach der Ordi habe ich eine neue Patientin zum Akupunktieren bestellt. Ich lasse meine Assistentin sicherheitshalber anrufen und der Dame mitteilen, dass sie daheim noch Pipi gehen muss. Bei uns geht das nämlich nicht. Was für ein super Einstieg fürs Kennenlernen seines neuen Doktors! Dann klebe ich Tape über die Klotüre, bade mich in Aseptoman und arbeite weiter.

S wie Schattenseiten

Der Rest der Woche verläuft stressig, die E-Medikation macht es nicht gerade einfacher und im Nacken sitzt uns noch der fertigzustellende Papierwahnsinn zum Thema DSGVO. Aber wir schaffen das. Auch wenn uns die Zunge heraushängt und wir bis zum Abend in der Ordi über irgendwelchen Vorschriften brüten. Ich bin gespannt, wie viele Qualitätsverbesserungen und Verordnungen wir organisatorisch noch schlucken und verkraften können, bevor wir aufgeben. „Die Ordination bleibt dauerhaft geschlossen aufgrund der Undurchführbarkeit von Patientenbehandlungen!“ Am Sonntagabend gehe ich wie immer in die Ordination, sehe die Befunde durch und bereite mich auf die bestellten Besprechungen und Vorsorgeuntersuchungen des nächsten Tages vor. Ich will einfach wissen, was die Leute haben, und gezielt nachfragen können und nicht in Anwesenheit des Patienten stundenlang durch die alten Befunde scrollen.

Die wenige Zeit, die ein Kassenpatient so hat, darf er oder sie im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit stehen. Nach Abschluss meiner Vorbereitungen meint mein Computer ganz unschuldig, er hätte noch ein kleines Update. Also drücke ich am Server Herunterfahren inklusive Aktualisieren. Dauert eh nur zehn Minuten. Und damit in der Früh die beste aller Assistentinnen keinen Schock bekommt, fahre ich den PC auch gleich wieder hoch, sodass er sein kleines Update verarbeiten kann: „Bitte schalten Sie den PC nicht aus – das kann einige Minuten dauern.“ Anderthalb Stunden braucht das widerliche Teil. Ich schwanke zwischen Schreikrämpfen und Hysterieattacken und verputze sämtliche von den Patienten gespendete Schokoladen. Auch die, die ich gar nicht mag (und das sind viele: Haselnüsse, Marzipan, alles mit Frucht oder Schnaps drinnen, nur vor „After Eight“ mache ich noch halt).

Am nächsten Morgen spinnt das Netzwerk. Die beiden Clients in den Ordinationen erkennen den Server, das unbekannte neue Wesen nicht mehr. Die Computerfirma ist erst in einer Stunde erreichbar, also alles mit der Hand schreiben und in der Rezeption dann eintippen lassen. Ich liebe Montagmorgen! Als wir endlich wieder ein funktionierendes Netzwerk haben, beginnen wir mit Duracellhäschengeschwindigkeit den Patientenstau abzuarbeiten. Und eigentlich ist es ganz nett. Bis uns etwas komisch vorkommt: Es ist so still! Genaueres Nachsehen zeigt uns, dass das Telefon nicht funktioniert und gleich darauf merken wir auch, dass es kein Fax gibt, kein Internet und keine E-Card. Also gibt es keine Chefarztrezepte, keine Krankmeldungen, keine E-Medikation und niemand kann uns erreichen.

Mein wirklich geringstes Problem. Nach der Ordizeit ist wieder dieselbe Akupunkturpatientin bestellt. Diesmal müssen wir ihr sagen, dass wir sie nicht krankmelden können, weil wir technisch völlig isoliert sind. Dafür bieten wir ihr an, dass sie heute, so oft sie möchte, unser WC aufsuchen kann. Sie schaut mich ein bisschen seltsam an. Ich denke, sie überlegt, wo sie da hingeraten ist. Ich hab sie für kommenden Montag wiederbestellt, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie noch mal kommt.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune