12. Aug. 2019Gastkommentar Univ.-Prof. Dr. Shahrokh F. Shariat

„Unser Gesundheitswesen braucht einen Neustart“

Gettyimages/ DNY59

Der Druck auf Medizindienstleister, einen grundlegenden Wandel im Gesundheitswesen herbeizuführen, wächst seit Jahrzehnten. Auf dem Weg zu einem sinnvollen Wandel gilt es jedoch, Hürden zu überwinden. Dabei wäre es etwa an der Zeit, die Fragmentierung im Gesundheitswesen zu überdenken.

Explodierende Kosten, eine alternde Bevölkerung, Fortschritte in der Medizin und wachsende Erwartungen von Patienten und an die Verwaltungsleistung haben den Status quo unhaltbar gemacht. Veränderungen im Gesundheitswesen sind unvermeidlich. Ein Zuwarten macht die Situation nicht besser. In zahlreichen Blog-Einträgen und Artikeln habe ich mich bereits mehrfach dazu geäußert.1-8

Meiner Ansicht nach gibt es eine sinnvolle Lösung: Die Erhöhung des patientenzentrierten Wertes in der Gesundheitsversorgung mithilfe des Value Based Health Care Ansatzes nach Michael Porter. Es ist an der Zeit, die Hürden in Lösungen umzuwandeln.

Die Fragmentierung im Gesundheitswesen ist eine wesentliche Herausforderung

Der Organisationsaufbau in den meisten Gesundheitseinrichtungen ist grundsätzlich Fachgebiet-zentriert. Krankenhausärzte behandeln ein breites Spektrum an Erkrankungen, die für ihr Fachgebiet relevant sind. Ein Urologe zum Beispiel sieht Patienten mit Harnwegsinfekten, bietet Prostatabehandlungen an und behandelt Erkrankungen der Blase. Die Ärzte sind in ihren Fachbereichen verwurzelt und man setzt voraus, dass die Patienten den Weg zum entsprechenden Fachgebiet selbst finden. In dieser Struktur arbeiten wir Ärzte in der Regel hart daran, den Patienten bei jeder Begegnung zu helfen – und wir gehen davon aus, dass wir auf diese Weise unsere Arbeit gut machen. Unsere Bemühungen konzentrieren sich vor allem darauf, das Volumen, die Quantität der von uns erbrachten Dienstleistungen zu erhöhen, um letztlich Expertise zu gewinnen, die wiederum in Patientenzahlen gemessen wird – und das pro Fachbereich.

Dieser Ansatz mag in der Vergangenheit sinnvoll gewesen sein, als es den wenigen Spezialisten möglich war, medizinisch alles zu wissen. Heute jedoch hat der Fortschritt viele bisher unheilbare Krankheiten behandelbar gemacht, und die Medizin ist rasend schnell bei neuen Erkenntnissen, die wir in der Behandlung mitbedenken müssen. Es ist daher unumgänglich, dass Ärzte aus verschiedenen Fachbereichen zusammenarbeiten, um eine hochmoderne bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Zum Beispiel benötigt ein Patient mit fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom die Betreuung aus der Urologie, Onkologie, Radiologie, Inneren Medizin und manchmal Gefäßchirurgie und Intensivmedizin.

Schlechte Koordination, fehlende Zusammenarbeit

Doch die derzeitige isolierte und fragmentierte Versorgungsorganisation in unserem Land macht eine multidisziplinäre und integrative Gesundheitsversorgung äußerst schwierig. Doppelte Arbeitsschritte und unnötige Verzögerungen sind dadurch leider in der Struktur des Systems verankert. Häufig sind sogar die Patienten gezwungen, ihre Versorgung zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass die verschiedenen behandelnden Ärzte miteinander kommunizieren.

Es entsteht außerdem der falsche Eindruck, dass eine exzellente Versorgung von Natur aus teurer ist, was die Bemühungen behindert, Patienten an die für sie hochwertigen und richtigen Medizindienstleister zu bringen. Denn kostenintensiver ist nicht gleich besser.

Für den niedergelassenen Bereich schätzt man, dass ein Patient pro Jahr im Schnitt zu fünf bis sieben verschiedenen Ärzten, in drei bis vier verschiedene Arztpraxen geht. Dabei gibt es wenig bis gar keine Integration der medizinischen Befundungen und Therapien untereinander. Die Integration der Gesundheitsversorgung zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Klinikern ist wichtig und hätte eine tragende Rolle dabei, zu einer Wertsteigerung (Anm.: „value“ nach VBHC) für die Patienten beizutragen. Wären alle an der Gesundheitsversorgung beteiligten Mediziner wie in einem großen Unternehmen eingebunden, kann Teamarbeit auch gleich Teil der „Jobbeschreibung“ und des Selbstverständnisses werden. Das Vertrauen, das für gut funktionierende Teams entscheidend ist, braucht jedoch Zeit und ist ein Prozess, auch im Sinne der optimalen Versorgung für die Patienten.

Strategische Veränderung statt punktueller Aufstockung

Fragmentierung bedeutet für mich auch, dass viele Ärzte leider keine Möglichkeit sehen oder haben, weitere Experten zum konkreten Krankheitsfall direkt ins Behandlungsteam zu holen. (wie z.B. Ernährungswissenschaftler, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten oder andere Berufsgruppen).

Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass ein hohes Volumen an Patienten mit einer bestimmten Erkrankung für die Erfolgsraten wichtig ist. Von der Politik wird aber häufig die Aufstockung im lokalen Bereich fälschlicherweise mit einer besseren Versorgung gleichgesetzt. Mehr Ärzte einer bestimmten Versorgungsleistung in einer Region zu haben, führt nicht unbedingt zu einer besseren Gesundheit der Bevölkerung. Hingegen können Zentren mit höherem Patientenvolumen oft mehr bieten.

Die derzeit vorhandenen Strukturen garantieren dem Patienten lediglich einen niedrigen oder ungleichen Wert in der Behandlung und sind extrem widerstandsfähig gegenüber Veränderungen.

Die oben genannten Hürden machen deutlich, dass der Übergang vom Altsystem zu einem patientenzentrierten wertorientierten System eine echte strategische Herausforderung ist und nicht nur eine Reihe von Einzelschritten erfordert.

Arbeiten wir doch gemeinsam an einem „Reset“ für unser Gesundheitswesen. Eine echte Lösung ist zum Greifen nahe. (Siehe Teil 2: Value Based Health Care Management)

Dieser Kommentar ist der erste von zwei Teilen zum Thema „Veränderungen in der Struktur sind unvermeidlich“.

Literaturverzeichnis

  1. Shariat, Shahrokh. 2016: Runter vom „hohen Ross“ im Gesundheitswesen. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard.at, 21.10.2016
    https://www.derstandard.at/story/2000046202978/runter-vom-hohen-ross-im-gesundheitswesen
  2. Shariat, Shahrokh. 2016: Wert und Nutzen statt blindes Leistungsdenken. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard, 11.03.2016
    https://www.derstandard.at/story/2000032465689/wert-und-nutzen-statt-blindes-leistungsdenken
  3. Shariat, Shahrokh. 2015: Qualitätsmessung im Gesundheitswesen hilft Patienten – und senkt Kosten. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard, 04.05.2015 https://www.derstandard.at/story/2000015131160/qualitaetsmessung-im-gesundheitswesen-hilft-patienten-und-senkt-kosten
  4. Shariat, Shahrokh. 2016: Warum sich das Gesundheitswesen auf Behandlungsergebnisse ausrichten muss. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard, 22.07.2016 https://www.derstandard.at/story/2000040373621/warum-sich-das-gesundheitswesen-auf-behandlungsergebnisse-ausrichten-muss
  5. Shariat, Shahrokh. 2018: Wettbewerb im Gesundheitswesen – Risiken in Lösungen umwandeln. Klinik 1/2018
  6. Shariat, Shahrokh. 2016: Warum Führungskräfte auf das Krankenhauspersonal hören sollten. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard, 24.06.2016
    https://www.derstandard.at/story/2000039576118/warum-fuehrungskraefte-auf-das-krankenhauspersonal-hoeren-sollten
  7. Shariat, Shahrokh. 2015: Teamarbeit ist die Zukunft der Medizin. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard, 31.07.2015
    https://www.derstandard.at/story/2000016457254/teamarbeit-ist-die-zukunft-der-medizin
  8. Shariat, Shahrokh. 2014: Warum nicht jedes Spital alles anbieten muss. Blog „Gedanken zur Medizin“, derStandard, 20.11.2014