Wien wächst: Zellkulturen in Meidling
INTERVIEW – Im April fiel der Startschuss für eine neue pharmazeutische Produktionsanlage von Boehringer Ingelheim. Prof. Dr. Uwe Bücheler, Leiter des Bereichs Biopharmazie global, über das 700 Millionen Euro schwere Bauprojekt. (Pharmaceutical Tribune 7-8/2017)
Seit 1982 werden am Standort Wien biotechnologische Arzneimittel aus Mikororganismen wie Bakterien oder Hefen hergestellt. In Produktion sind derzeit ca. 25 Biopharmazeutika. Darunter unternehmenseigene Entwicklungen, aber auch Medikamente zur Behandlung von Krebs, Hepatitis C, Multipler Sklerose, Osteoporose, Wachstumsstörungen und Rheumatoider Arthritis im Auftrag anderer Unternehmen. In der neuen Anlage sollen nun Wirkstoffe aus Säugetierzellkulturen gewonnen werden. Pharmaceutical Tribune war beim Spatenstich am 6. April dabei.
Pharmaceutical Tribune: Herr Prof. Bücheler, geben Sie uns einen kurzen Einblick in die Herstellung von Biopharmaka?
Uwe Bücheler: Grundsätzlich gibt es zwei Methoden, therapeutische Wirkstoffe herzustellen. Die eine ist die chemische, die andere die biopharmazeutische Synthese. Bei Letzterer handelt es sich um die Herstellung von Wirkstoffen mithilfe von lebenden Systemen. Der Unterschied liegt in der Komplexität der Wirkstoffe und in der Wirkstoffmenge, die bei der Synthese erzeugt werden kann. Die chemische Synthese ist sehr effizient und man kann große Mengen herstellen, dafür aber nur kleine Moleküle. In der biopharmazeutischen Technologie kann man zwar mengenmäßig weniger, dafür aber deutlich größere und komplexere Moleküle produzieren. Und hier stehen zwei Systeme zur Verfügung: einerseits Mikroorganismen, also Bakterien und Hefen, andererseits Säugetierzellkulturen.
Was bringt nun der neue Betrieb?
Wien ist derzeit der einzige von weltweit vier Boehringer-Ingelheim-Standorten, an dem Biopharmazeutika mithilfe von Mikroorganismen hergestellt werden. Neu hinzu kommt jetzt eine Produktionsstätte für Wirkstoffe aus Säugerzellkulturen. Das ist eine andere, neue Technologie, die stark im Vormarsch ist. Man kann damit Moleküle herstellen, wie sie der Mensch selbst – wir sind ja auch Säuger – in seinen eigenen Zellen produziert. Diese sind den menschlichen Molekülen sehr ähnlich und auch gut verträglich. Mittlerweile haben sich die Zellkulturen so stark weiterentwickelt, dass wir jetzt in der Lage sind, neue Wirkstoffe, die in sehr großen Mengen benötigt werden, sehr effizient herzustellen.
Können Sie die Produktionskette beschreiben?
Der Ausgangspunkt der Produktion ist immer in der Masterzellbank, wo der Wirkstoff genetisch programmiert wurde. Ausgehend von einem Milliliter vermehrt man die Zellen in einem Medium über sechs Wochen lang in verschiedenen Stufen. Die Zellen verdoppeln sich täglich, der letzte Bioreaktor fasst schließlich 15.000 Liter. Zum Vergleich: Bakterien haben den Vorteil, dass sie sich schneller vermehren, man braucht kleinere Bioreaktoren und weniger Zeit. Aber: Zellkulturen können noch komplexere Moleküle erzeugen.
Und damit wieder zurück: Im letzten Produktionsfermenter wird die Wirkstoffsynthese angestoßen. Es folgen Reinigungsschritte, wobei das Produkt hochrein isoliert wird. Nach zwei Wochen hat man schließlich den Wirkstoff in Fläschchen oder Spritzen. Besonders ist, dass diese Produkte Proteine, also Eiweiße, sind, die über die Tablettenroute im Magen- Darm-Trakt vollständig verdaut würden und deshalb als Injektion oder Infusion verabreicht werden. Damit sind die Wirkstoffe schneller im Körper verfügbar, was bei speziellen Therapiegebieten – etwa in der Onkologie oder Immunologie –, wo die Behandlung meist im Spital erfolgt, von Bedeutung sein kann.
Neue Therapiefelder – ein Grund für die steigende Nachfrage?
Sicher ist das einer der Hauptgründe. Die Produkte eröffnen neue vielversprechende Therapieoptionen. Ein Beispiel ist eben die Immunonkologie, wo die Wirkstoffe das körpereigene Immunsystem aktivieren, um spezifisch Krebszellen zu vernichten und nicht auch gesundes Gewebe wie bei der Chemotherapie. Durch diese neue Generation von Wirkstoffen schafft es der Körper, den Tumor selbst zu bekämpfen. Primär sind es also die neuen Therapiefelder, die die Nachfrage erhöhen. Ein weiterer Faktor ist, dass breite Patientenpopulationen in einigen Teilen der Welt noch keinen hinreichenden Zugang zu diesen modernen Therapien durch Biopharmazeutika haben. Dieser soll durch den Einsatz von Biosimilars ermöglicht werden. Ein Biosimilar ist ein biologisches Arzneimittel, das so entwickelt wurde, dass es mit einem bereits zugelassenen Biopharmazeutikum vergleichbar ist. Hochwertige Biosimilars können somit den Patienten und Leistungserbringern im Gesundheitssystem mehr Behandlungsoptionen eröffnen. Gleichzeitig werden Biosimilars den Einsatz von innovativen Therapieoptionen fördern, da frei werdende Ressourcen entsprechend umverteilt werden können. Zum Beispiel in China gibt es eine stark steigende Nachfrage nach diesen modernen Medikamenten, und der Bedarf, Patienten über den günstigen Zugang, also über die Biosimilars versorgen zu können, ist da und steigt zusehends.
Apropos Standort – warum Wien?
Eine wichtige Rolle hat gespielt, dass wir hier eine sehr erfolgreiche und zuverlässige Mannschaft haben. Wir haben über 700 Mitarbeiter, die im mikrobiellen Umfeld arbeiten. Man kann also auf dem bestehenden Personalstand aufbauen. Zusätzlich haben wir in Österreich eine exzellente Ausbildungsbasis in sehr vielen Bereichen – wir brauchen ja auch Personen aus Technologie oder Produktion. Dabei aber nicht ausschließlich Neueinsteiger, sondern auch erfahrene Mitarbeiter. Deshalb schauen wir, dass Kollegen aus Biberach (D) in Wien eine Rolle übernehmen, sozusagen für einen Know-how-Transfer. Mir persönlich als Verantwortlicher für den Bereich ist wichtig, dass die Standorte kooperieren und nicht im Wettbewerb stehen. Wir verfolgen ja ein gemeinsames Ziel, und das ist, die Patienten mit Medikamenten zu versorgen.
Neue Produktionsanlage für Biopharmazeutika aus Zellkulturen
Investitionsvolumen: 700 Mio. Euro
Mitarbeiter: am Standort dzt. 1600 gesamt (700 Biopharmazie), zusätzlich 500 MA aus Biopharmazie, Labor, Verfahrenstechnik, Vertrieb
Inbetriebnahme: 2021