16. Jän. 2018

Wann Sie nach Missbrauch fragen sollen

KOLOPROKTOLOGIE – Die Folgen eines sexuellen Missbrauchs manifestieren sich oft erst nach langer Latenz körperlich. Wie Ärzte helfen können und warum äußerste Zurückhaltung mit Operationen geboten ist, war auf der MKÖ-Tagung in Linz zu erfahren. (Medical Tribune 1-3/18) 

Es handelt sich nach wie vor um ein Tabuthema, das Univ.-Prof. Dr. Max Wunderlich auf der 27. Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) anschnitt: den sexuellen Missbrauch. Zur Prävalenz zitierte der MKÖ-Vizepräsident Zahlen aus den USA, wo Misshandlungen meldepflichtig sind. Demnach kommt am häufigsten die körperliche Vernachlässigung vor, gefolgt von körperlicher Misshandlung. Der sexuelle Missbrauch macht 11 % aller angezeigten Misshandlungen aus.1 Mehr als 80 % der von sexuellem Missbrauch betroffenen Kinder erleben diesen laut Wunderlich in einem Alter unter 14 Jahren, also noch im Schutzalter, „wobei unter Fünfjährige, die sexuell missbraucht wurden, dies eher vergessen als über Fünfjährige“. Die Täter sind meist männlich, in 98 % gegenüber dem weiblichen, in 79 % gegenüber dem männlichen Geschlecht. „Sie kommen zu 50 % aus dem Bekanntenkreis, zu 25 % sind es Verwandte, Angehörige und zu einem Fünftel Fremdtäter, bei 5 % weiß man es nicht genau.“

Die Krankheitsfolgen nach sexuellem Missbrauch sind vielfältig und reichen von psychischen Krankheiten wie Depressionen bis hin zu schweren gastrointestinalen Problemen. Laut einer niederländischen Studie2 wiesen von 290 Patientinnen in einer gastroenterologischen Ambulanz 44 % einen sexuellen Missbrauch in der Anamnese auf. Davon ist die Gruppe mit rein funktionellen Beschwerden vs. der Gruppe mit organischen Beschwerden signifikant höher. Oft wüssten die eigenen Hausärzte nichts von den Beschwerden, berichtet Wunderlich. Wenn die Patientinnen dann aber Fachärzte konsultieren, würden sie nicht selten Operationen unterzogen, die „ineffizient und unnötig“ seien. „Wir sehen natürlich nur die Krankheit, aber wenn wir wissen, es ist ein Missbrauch in der Anamnese, können wir einen besseren Zugang zu einer Therapie finden.“ Bei folgenden Krankheitsbildern sollten (koloproktologische) Ärzte daher einen Missbrauch in der – oft schon vergessenen – Vorgeschichte denken:

  • „funktionelle“ Dyspepsie
  • Reizdarmsyndrom
  • Enddarmobstipation: Beckenboden- Dyssynergie, obstruktives Defäkationssyndrom (ODS), Anismus
  • anales Schmerzsyndrom, Schmerzen im kleinen Becken (Chronic Pelvic Pain, CPP)
  • psychische Auffälligkeit
  • multiple Therapien ohne Erfolg
  • „Doctor Shopping“
  • mangelnde Compliance (Ausweichen, oftmaliges Verschieben von Terminen etc.)

Ein Missbrauch könne sich auch in Veränderungen im ZNS niederschlagen, zitierte Wunderlich eine Arbeit3 zur „Brain-Gut-Axis“: Mittels funktioneller MRT bei Reizdarmsyndrom und Missbrauchsanamnese konnte während eines Krankheitsschubs mit Leitsymptom Schmerz eine Hyperaktivität in bestimmten Hirnarealen festgestellt werden, die vergleichbar mit posttraumatischen Belastungsstörungen von Kriegsveteranen („Gulf War Syndrome“) war. Nach acht Monaten Psychotherapie plus Antidepressiva kam es neben der klinischen Besserung wieder zu einem MRT-Normalbefund. Wunderlich: „Das zeigt, wie sehr Missbrauch auch im Körper haftet.“

„Lobotomie des Rektums“

Die Therapie von gastrointestinalen Funktionsstörungen mit Missbrauchsanamnese ist in erster Linie eine konservative (Analgesie, Physiotherapie, Psychotherapie/Medikamente) – selbst bei Rektozele und rektaler Intussuszeption. Natürlich sei es „verlockend“, z.B. bei rektaler Intussuszeption eine STARR (Stapled Transanal Rectal Resection) durchzuführen, räumte der erfahrene Chirurg ein. Doch eine wiederhergestellte Anatomie gehe oft nicht mit einer wiederhergestellten Funktion einher. Die Ergebnisse einer Studie4 veranlassten Wunderlich, die STARR sogar als „Lobotomie des Rektums“ zu bezeichnen: 45 % ohne Erfolg, 20 % chronische Proktalgie (mit oft heftigsten Schmerzen), Stuhlinkontinenz, rektovaginale Fisteln etc. Er selber habe nicht viele Fälle von Missbrauch in seiner persönlichen Karriere gesehen, „einfach, weil ich früher oft nicht gewusst habe, dass ich hätte fragen sollen“, appelliert Wunderlich an seine ärztlichen Kollegen, sich des Themas anzunehmen.

Gerade als Chirurg warne er insbesondere vor großen transabdominellen und peranalen Operationen, ohne vorher einen Missbrauch abgeklärt zu haben. Erst heuer konsultierte ihn eine Patientin, bei der er relativ rasch die Frage nach einem Missbrauch stellte, die bejaht wurde (siehe Kasuistik unten). „Sie hat sich bei mir bedankt, weil ich der Erste war, der ihr gesagt hat, dass sie keine Operation braucht – einige andere hätten ihr dazu geraten.“ In der Diagnostik seien „Fragen mit Zeit, Geduld und Empathie“ entscheidend, ermutigt Wunderlich, das von den Betroffenen „verständlicherweise“ tabuisierte Thema anzusprechen und kleidet seine abschließende Botschaft wie gewohnt in Verse: Keine Frage rührt das Sehnen, Ohne Antwort bleibt das Leid. Ungestillt sind meine Tränen, Spuren der Vergangenheit.

Referenzen:
1 Egle UT, Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachl
ässigung. Schattauer 2016
2 Nicolai MP et al., Gastroenterol 2012; 3: 166–71
3 Drossman DA, Am J Gastroenterol 2011; 106: 14–25
4 Podzemny V et al., World J Gastroenterol 2015; 28: 1053–60

27. Jahrestagung der MKÖ; Linz, Oktober 2017 

Danach wie „eingefroren“
Ein Vater-Tochter-Inzest sei selten und werde nur in 2–3 % der Fälle beobachtet, berichtet Wunderlich. Der nicht nur Fachliteratur-affine Mediziner verweist in diesem Zusammenhang auf dem Roman „Tender is the night“ (deutsch: „Zärtlich ist die Nacht“) des amerikanischen Autors F. Scott Fitzgerald. Darin ist die missbrauchte Tochter plötzlich wie „eingefroren“ und sagt nur „Never mind, Daddy“. Der Vater hätte sich am liebsten erschossen. „Dieses ‚Eingefrorensein‘ zeigt“, analysiert Wunderlich im Hinblick auf die oft lange Latenz, „da ist etwas in ihr fixiert, versunken, das dann auch durch psychiatrische Therapie Jahrzehnte später schwer herauszufinden ist.“

Kasuistik
Eine 51-jährige Patientin leidet jahrelang unter Endometriose mit Leitsymptom abdomineller/pelviner Schmerz, der durch eine Operation 2016 beseitigt werden kann. Seit acht Jahren hat die Patientin ein obstruktives Defäkationssyndrom mit Rektozele, eine Entleerung ist nur mithilfe der Finger möglich („self-digitation“). Seit einigen Wochen kommt ein analer Schmerz hinzu. Es folgt eine Physiotherapie mit Beckenbodentraining und eine Zuweisung zum Gynäkologen mit Fragestellung Entzündung. Doch Anamnese, klinische Untersuchung und Labor schließen eine Entzündung aus. Zur Konsultation im Mai 2017 bei Prof. Wunderlich bringt die Patientin Bilder einer rezenten Defäkographie mit, die Folgendes zeigen: Während des Entleerungsversuchs kontrahiert die Beckenbodenmuskulatur, es bilden sich Rektozele und Intussuszeption aus, der M. puborectalis würgt das Rektum ab, wodurch die Entleerung verhindert wird. Auf Nachfrage bejaht die Patientin einen Missbrauch in der Kindheit, sie habe deswegen seit 2004 immer wieder Psychotherapien gehabt. Wunderlich rät ihr klar von einer Operation ab, wofür sie sich bedankt. Einige Monate später erkundigt er sich nach ihrem Befinden: Erfreulicherweise sei der anale Schmerz tatsächlich durch das Beckenbodentraining verschwunden. Sie habe jedoch nach wie vor die Entleerungsstörung, sei aber im Moment nicht zu einer Psychotherapie bereit.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune