Hohes Hb ist bei renaler Anämie kein Muss

Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen haben oftmals eine Anämie. Soll das Hämoglobin dann medikamentös ­angehoben werden? Und wenn ja, welche Hämoglobinwerte sollen angestrebt werden? Diese Fragen sind gar nicht so leicht zu beantworten. (Medical Tribune 36/2017)

Bei renaler Anämie darf nicht auf den Eisenstatus vergessen werden.
Bei renaler Anämie darf nicht auf den Eisenstatus vergessen werden.

Anämie ist ein häufiges Phänomen bei chronischer Niereninsuffizienz (CKD = chronic kidney desease). Bei einer GFR < 60 ml/min leiden bereits 12,3 % der Patienten an einer Anämie (Hämoglobin = Hb < 12 g/dl für Frauen und < 13,5 g/dl für Männer).1 „Dabei beginnt da erst der Kreatininwert anzusteigen“, gab Dr. Roland Edlinger, Oberarzt an der 3. Medizinischen Abteilung in Hietzing, bei den Ärztetagen Velden zu bedenken. Das heißt, die Nierenfunktions­einschränkung ist möglicherweise noch gar nicht aufgefallen. Sinkt die GFR unter 45 ml/min, ist ungefähr jeder vierte Patient von einer Anämie betroffen, unter 30 ml/min sogar mehr als die Hälfte.1

Bessere Karten durch Fachbetreuung

Werden die Patienten frühzeitig von einem Nephrologen betreut, liegt der Hämoglobinwert bei Dialysebeginn eher im Normbereich als bei Patienten, die vor Dialysebeginn nicht nephrologisch betreut wurden, betont Edlinger und spricht sich dafür aus, Patienten mit klassischen Risikofaktoren für eine chronische Niereninsuffizienz lieber früher als später zum Nierenspezialisten zu überweisen. „Sie versterben im ersten Jahr der Dialyse weniger häufig und haben eindeutig die besseren Karten.“ Nun stelle sich die Frage, so Edlinger, ob die Anämie lediglich ein Surrogatparameter für die chronische Niereninsuffizienz ist oder ob sie per se schlecht für den Patienten und daher behandlungswürdig ist. In einer prospektiven Beobachtungsstudie mit rund 4600 Dialysepatienten2 stellte sich tatsächlich heraus, dass ein niedriges Hb (< 10 g/dl bei unter 75-Jährigen, < 9 g/dl bei über 75-Jährigen) prädiktiv für eine erhöhte Sterblichkeit war. Das sei allerdings noch kein Beweis dafür, dass eine Kausalität bestünde, stellte Edlinger klar. Dafür brauche es prospektive randomisierte, kontrollierte Studien.

Kein Benefit durch starke Hb-Anhebung

Die erste Studie dieser Art, bei der das Hb bei Hämodialyse-Patienten mit einem ESA (Erythropoiesis-Stimulating Agent) angehoben wurde, war enttäuschend. Untersucht wurde Erythropoetin, Darbepoetin gab es damals noch nicht. Es zeigte sich, dass bei jenen Patienten, bei denen das Hb auf 14 g/dl (vs. 10 g/dl) angehoben wurde, mehr Herzinfarkte auftraten.3 In der TREAT-Studie4 erlitten Diabetes-Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und kardiovaskulären Vorerkrankungen, bei denen das Hb von < 9 g/dl auf einen Zielwert von 13 g/dl angehoben wurde, mehr Schlaganfälle. Auch bei Patienten mit Herzinsuffizienz und Niereninsuffizienz, deren Anämie mit ESA behandelt worden war, traten mehr thromboembolische Ereignisse auf.5 Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2014 zeigte zudem, dass durch ESA auch keine Verringerung der CKD-Progression zu erreichen ist.6

Anämietoleranz bei CKD höher

Ist es bei CKD-Patienten mit Anämie also wirklich notwendig bzw. sinnvoll, den Hb-Wert anzuheben? Und woran liegt es, dass niereninsuffiziente Patienten, deren Hb korrigiert wird, sogar ein schlechteres Outcome haben? Zum einen können CKD-Patienten durch die pathophysiologischen Gegebenheiten (Azidose, Urämie) den Sauerstoff im Gewebe besser ausschöpfen. Edlinger: „Die Anämietoleranz bei Niereninsuffizienten ist einfach höher. Das heißt, diese Patienten brauchen offenbar nicht unbedingt einen Hämoglobinwert von 13 oder 14 g/dl.“ Um die zweite Frage zu beantworten, verwies Edlinger nochmals auf die TREAT-Studie4, aus der hervorgeht, dass Patienten mit gutem Response auf die ESA-Therapie auch ein gutes Outcome hatten.

Dr. Roland Edlinger 3. Medizinischen Abteilung, Krankenhaus Hietzing
Dr. Roland Edlinger
3. Medizinischen Abteilung, Krankenhaus Hietzing

Ein schlechtes Outcome hatten vor allem jene, die schlecht auf die Therapie angesprochen und zur Anhebung des Hb höhere ESA-Dosen benötigt haben. Das lasse nun vermuten, dass das schlechtere Outcome mit der Therapie zu tun habe, nicht mit dem Hämoglobinwert per se, so Edlinger. ESA seien nunmal Wachstumsfaktoren, die nicht ganz spezifisch sind. Sie haben nicht nur Einfluss auf die Erythrozyten, sondern auch auf die Thrombozyten, was die Thromboembolieneigung erklären könnte. Außerdem würden sie in hohen Dosen auch Muskulatur und Gefäße zum Wachstum anregen und Vasokonstriktion und damit einen Anstieg des Blutdrucks vermitteln. „Nicht zuletzt gibt es Hinweise, dass hohe ESA-Dosen ein okkultes Karzinom anheizen können“, warnte Edlinger.

Auf den Eisenstatus nicht vergessen

Ein wichtiger Punkt, der in der Anämie-Therapie von nierenkranken Patienten oft vernachlässigt wurde, ist die Substitution des „Baustoffs“ Eisen. Edlinger: „Das ist so, als würden sie jemanden beauftragen, ein Haus zu bauen, ihm aber keine Ziegel zur Verfügung zu stellen.“ Zwei Zustände eines Eisenmangels werden unterschieden: Bei absolutem Eisenmangel sind die Eisenspeicher leer, sprich das Ferritin ist niedrig. Unter gewissen Umständen, zum Beispiel bei chronischen Entzündungen, aber auch bei Herz- und Nierensuffizienz, sind die Eisenspeicher oft durchaus gut gefüllt, es ist nur nicht möglich, das Eisen zu mobilisieren. Diesen sogenannten funktionellen Eisenmangel erkennt man anhand der niedrigen Transferrin-Sättigung. Edlinger: „Das heißt, wenn Sie den Eisenstatus eines Patienten ermitteln, brauchen Sie eigentlich drei Werte: das Eisen, das Ferritin und die Transferrin-Sättigung. Wenn die Transferrin-Sättigung niedrig und das Ferritin hoch ist, hat der Patient eigentlich genug Eisen, kann mit dem Eisen aber nichts anfangen.“

Zur Eisen-Therapie hob Edlinger kurz und prägnant hervor: „Orales Eisen kostet fast nix“, allerdings müsse es über eine lange Zeit gegeben werden und werde oft schlecht vertragen. Neuere – allerdings wesentlich teurere – i.v.-Präparate ließen sich hingegen einmalig als Single-Shot applizieren, erzielten hohe Ferritinwerte und seien mit weniger Nebenwirkungen verbunden. Die Patienten sollten allerdings auch nicht mit Eisen überladen werden, denn dadurch steigt die Infektneigung, so Edlinger, und es gebe Hinweise, dass ein Zuviel an Eisen mit kardiovaskulären Erkrankungen assoziiert ist. Als Richtwert für die Eisentherapie bei Dialysepatienten empfiehlt der Nephrologe eine maximale Dosis von 300 mg i.v.-Eisen pro Monat.

Was die Leitlinien zur renalen Anämie sagen

Wie nun konkret bei Patienten mit renaler Anämie vorzugehen ist, verraten die KDIGO-Leitlinien zur Behandlung der Anämie bei CKD7: Der Zielwert für das Hämoglobin liegt zwischen 10 und 11,5 g/dl, ein Hb-Wert von 13 g/dl sollte nicht überschritten werden. Ab einem Hämoglobinwert unter 10 g/dl sollten ESA verabreicht werden. Zuerst oder zumindest gleichzeitig mit der ESA-Therapie ist mit der Eisensubstitution zu beginnen. Dabei gilt: Ferritin sollte nicht größer als 500 μg/l, die Transferrinsättigung nicht höher als 30 % sein. Ein wichtiger Hinweis: Die generellen Eisenrichtwerte gelten nicht für niereninsuffiziente Patienten! Edlinger: „Ein Nierenpatient, der einen Ferritinwert von 80 μg/l aufweist, hat auf jeden Fall zu wenig Eisen, auch wenn auf dem Laborausdruck kein Sternchen daneben steht.“

Blick in die Zukunft der Anämie-Therapie

Medikamente, die den Abbau von sogenannten Hypoxie-induzierbaren Faktoren (HIF) hemmen (HIF-Stabilisatoren), könnten die Anämie-Therapie der Zukunft sein, erklärte Edlinger. HIF sind dazu da, die Hypoxietoleranz der Zellen und auch die Erythropoietinbildung zu steigern. Gleichzeitig wird Hepcidin herunterreguliert, das die Resorption und die Mobilisation von Eisen aus den Speichern hemmt. Das heißt, mit HIF-Stabilisatoren lassen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Erythropoese wird auf Basis eines physiologischen Mechanismus angekurbelt, und der Eisenstatus wird besser, ohne eine Eisenüberladung zu riskieren. Ein weiterer potenzieller Vorteil dieses neuen Therapieansatzes, der noch in den Kinderschuhen steckt, ist, dass der Hämoglobinanstieg auch bei inflammatorischen Prozessen erreicht werden kann.

Referenzen:
1 KDIGO 2012 Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Management of Chronic Kidney Disease
2 Hanafusa N, DOPPS, Nephrol Dial Transplant 2014; 29(12): 2316–26
3 Besarab A, N Engl J Med (Normal Hematocrit Study) 1998; 339(9): 584–90
4 M.A. Pfeffer et al., TREAT, NEJM 2009; DOI: 10.1056/NEJMoa0907845
5 K. Swedberg et al., RED-HF, NEJM 2013; DOI: 10.1056/NEJMoa1214865
6 A.Covic et al., Am J Nephrol. 2014; DOI: 10.1159/000366025
7 KDIGO 2012 Clinical Practice Guideline for Anemia in Chronic Kidney Disease

Ärztetage Velden, August 2017

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune