30. Aug. 2017

Den Schmerz erfassen

Das Assessment von Schmerzen steht am Beginn jeder zielführenden Behandlung. Bei Kindern, Menschen mit Demenz und mit Behinderungen sind spezielle Formen der Schmerzerfassung nötig. (ärztemagazin 04/17)

Grafik: Archiv

SERIE CHRONISCHER SCHMERZ TEIL 2

FÜR EINE SUFFIZIENTE Schmerztherapie ist eine sorgfältige Schmerzerfassung unerlässlich. Denn selbst heute ist eine gute und für die Patienten befriedigende Schmerztherapie noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dies gilt für Erwachsene und umso mehr für spezielle Patientengruppen wie Kinder, Menschen mit Behinderung oder demente Patienten.

GRUNDLAGEN DES ASSESSMENTS. Bei Vorliegen von Schmerzen sollte im Erstgespräch mit den Betroffenen oder Angehörigen nach folgenden Faktoren gefragt werden:

  • Beginn
  • Lokalisation
  • Qualität
  • Intensität
  • Auslöser der Schmerzen
  • Bisherige Therapie und deren Wirkung

Das initiale Assessment sollte ermöglichen zwischen akutem und chronischem Schmerz zu unterscheiden bzw. bei chronischem Schmerz zu differenzieren, ob die Schmerzsituation stabil oder instabil ist (s. Tab. 1). Assessmentinstrumente ermöglichen eine systematische standardisierte Messung der Schmerzintensität. Sie können durch Schmerzund Aktivitätentagebücher ergänzt werden. Die zuverlässigste Form der Schmerzerfassung stellt die Selbstbeurteilung des Patienten dar. Dafür existiert eine Reihe unterschiedlicher Tools mit standardisierten Fragen. Die bekanntesten und am häufigsten verwendeten sind:

  • Visuelle Analogskala (VAS): Auf einer 10cm langen Linie wird vom Patienten die Stelle markiert, die dem momentanen Schmerzempfinden entspricht. Auf der Rückseite der Skala kann ein korrespondierender Zahlenwert abgelesen werden (0 = kein Schmerz, 10 = unerträglicher Schmerz).
  • Numerische Ratingskala (NRS): „Bitte beurteilen Sie die Stärke Ihrer Schmerzen mit einer Zahl zwischen 0 und 10. Null bedeutet kein Schmerz, 10 bedeutet stärkste vorstellbare Schmerzen.“
  • Faces Pain Scale (FPS): „Bitte zeigen Sie mir jenes Gesicht, welches am ehesten der Stärke Ihrer Schmerzen entspricht.“
  • Verbal Rating Scale (VRS): „Bitte sagen Sie mir, wie stark Ihre Schmerzen sind: gar nicht vorhanden/leicht/mittelstark/stark/am stärksten vorstellbar?“

Tab 1

SCHMERZERFASSUNG BEI DEMENZ. Patienten mit Demenz sprechen Schmerzen seltener an als Menschen ohne Demenz und erhalten dementsprechend weniger (ausreichende) Schmerztherapie. Dazu kommt, dass mit zunehmendem Alter Schmerz oft generell als „normaler“ Teil des Älterwerdens empfunden wird und unangesprochen bleibt. Angst vor unangenehmen Untersuchungen und vor Abhängigkeit von Medikamenten verstärken dieses Verhalten. Die Einschätzung der Schmerzstärke bei dementen Patienten umfasst hierarchisch folgende Punkte:

  • Selbstauskunft des Patienten
  • Erkennen pathologischer bzw. schmerzverursachender Situationen
  • Beobachtung des Verhaltens
  • Einschätzung durch nahestehende Personen

 

Selbsteinschätzungsskalen stellen auch bei Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen grundsätzlich die verlässlichste und valideste Methode dar. Die Verlässlichkeit nimmt mit dem Grad der Demenz ab. Die VRS und eine vertikale Skala als „Schmerzthermometer“ erweisen sich bei dementen Patienten als vorteilhaft, während die NRS teilweise als zu komplex dargestellt wird. Aus der Erfahrung heraus sollte in Situationen wie postoperativ oder bei chronischen Erkrankungen angenommen werden, dass der Patient unter Schmerzen leidet und eine dementsprechende Schmerztherapie eingeleitet werden. Bei der Fremdeinschätzung spielt die Beobachtung von Verhaltensänderungen der Patienten eine große Rolle (s. Tab. 2). Von Bedeutung dabei ist eine gute Kenntnis der Patienten (kontinuierliche Betreuung/Pflege). Als guter Schmerz indikator hat sich hier vor allem die Änderung des Gesichtsausdrucks erwiesen – insbesondere auch bei fortgeschrittener Demenz.

QUELLE: BORNEMANN-CIMENTI H. ET AL. NERVENARZT 2012; 83:458–466

Die Schmerzeinschätzung durch Angehörige zeigt lediglich eine mäßige Kongruenz, die durch Fortschreiten der Demenz weiter abnimmt. Bei den Fremdbeurteilungsskalen existieren validierte deutschsprachige Versionen derzeit nur für die Skala „Beurteilung von Schmerzen bei Demenz“ (BESD), für das „Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz“ ( BISAD) und für das „Zurich Observation Pain Assessment“ (ZOPA) (s. Kasten). Die beiden ersten sind für demente Patienten validiert, während ZOPA allgemein für kognitiv eingeschränkte Patienten entwickelt und validiert wurde. Die BESD umfasst die fünf Dimensionen Atmung, negative Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Reaktion auf Tröstung. Diese werden in drei Ausbildungsstufen erfasst. BISAD erhebt vier Dimensionen vor und während der Mobilisation (vorher: Gesichtsausdruck, Ruhehaltung, Bewegung bzw. Mobilität, Beziehung zu anderen; während: Angst, Reaktion während Mobilisation, Reaktion während der Pflege von schmerzenden Bereichen, Klagen). In jeder Dimension finden sich vier Ausprägungsstufen. ZOPA besteht aus vier Kategorien mit insgesamt 13 Items. Bereits bei einem positiven Item besteht Schmerz mit entsprechender Therapiekonsequenz.

SCHMERZASSESSMENT BEI KINDERN. Noch unbefriedigender als die Schmerztherapie bei Erwachsenen stellt sich das Schmerzmanagement bei Kindern dar. Große Fortschritte wurden hier mit den österreichischen interdisziplinären Handlungsempfehlungen zum perioperativen Schmerzmanagement bei Kindern erzielt (Messerer B., Sandner- Kiesling A., Schmerz 2014; 28:14– 24). Von essenzieller Bedeutung ist die umfassende Information und Aufklärung der Eltern – insbesondere auch, um falsche Erwartungshaltungen abzubauen. Im Erstgespräch sollten die bereits beschriebenen Faktoren erhoben werden. Die Selbstbeurteilung des Schmerzes ist bei Kindern ab dem vierten bis sechsten Lebensjahr möglich. In den ersten drei Lebensmonaten kann darüber keine Aussage gemacht werden. Ab dem vierten Lebensmonat reagieren Kinder auf Schmerz mit Traurigkeit und Ärger. Furcht vor Schmerz entwickelt sich ab dem sechsten Monat.

Im Alter von 18 bis 24 Monaten können Kinder Schmerz als „wehtun“ beschreiben. Zwischen drei und fünf Jahren kann Schmerz emotional beschrieben werden („schlimm“, „wahnsinnig“). Mit fünf bis sieben Jahren ist eine bessere Differenzierung der Schmerzintensität möglich, ab elf Jahren gelingt dessen genaue Bewertung. Wichtig ist zu dem betroffenen Kind ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und eine kindgerechte Sprache zu verwenden. Denn Kinder negieren Schmerzen häufig gegenüber Fremden, haben Angst vor „Spritzen“ etc. Die Schmerzerfassung unter einem Alter von drei Jahren ist schwierig. Für Unwohlsein bzw. Weinen stellen in diesem Alter Hunger, Durst, fehlende Zuwendung, eine nasse Windel, Lärm oder grelles Licht die häufigsten Ursachen dar.

QUELLE: MESSERER B., SANDNER-KIESLING A., SCHMERZ 2014; 28:14–24

Bei nicht beatmeten Neugeborenen und Kindern bis zum vollendeten vierten Lebensjahr empfiehlt sich die Verwendung der kindlichen Unbehagens- und Schmerzskala (KUSS) nach Büttner (s. Tab. 3). Für Kinder ab vier Jahre wird die validierte „Faces Pain Scale – Revised“ (FPS-R) nach Hicks empfohlen, bei der anhand von sechs Gesichtern der Schmerz bewertet wird. Dafür benötigt es eine kurze Anwenderanleitung, die in 47 Sprachen zur Verfügung steht. KUSS und FPS-R werden auch für die Schmerzbeurteilung von Kindern mit leichter kognitiver Beeinträchtigung empfohlen. Kinder mit mäßiger bis schwerer intellektueller Einschränkung drücken Schmerz in der Regel nonverbal und sehr individuell aus. Hier stehen Vertrauensbildung, Eingehen auf individuelle Bedürfnisse und Abbau von Angst und Stress im Vordergrund.

Quellen: Bornemann-Cimenti H. et al. Nervenarzt 2012; 83:458–466 Messerer B., Sandner-Kiesling A., Schmerz 2014; 28:14–24 „SOP Schmerzerfassung – Schmerzmanagement“. Klinische Abteilung für Allgemeine Anästhesiologie, Notfall- und Intensivmedizin, Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Graz

Autoren: Univ.-Prof. Dr. Andreas Sandner-Kiesling, Dr. Brigitte Messerer, Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Graz, E-Mail: andreas.sandner@medunigraz.at

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