19. Juli 2017

Radprofi Kohl: „Ich bin froh, dass sie mich erwischt haben, sonst hätte ich weitergemacht“

Auch heuer ging die Tour de France nicht ohne einen Fall von EPO-Doping über die Bühne. Gleichzeitig zweifelt eine frisch publizierte Studie die leistungssteigernde Wirkung des verbotenen Hormons an. MT ist der Sache auf den Grund gegangen und hat bei Experten nachgefragt. (Medical Tribune 29/2017)

Lance Armstrong wurde einst positiv getestet, Jan Ullrich auch: EPO-Doping hat im Radsport schon so manchen Top-Athleten nachträglich Stockerlplatz und Ruhm gekostet. Doch selbst im Jahr 2017 scheint Erythropoetin nicht aus dem Radsport verschwunden zu sein, wie der Fall des im Vorfeld der Tour de France suspendierten Portugiesen André Cardoso eindrucksvoll zeigt. Nahezu zeitgleich wurde im Fachjournal „Lancet Haematology“ eine Studie veröffentlicht, die nachgewiesen haben will, dass das verbotene Hormon die Leistung der Radfahrer in Straßenrennen in höchstens unbedeutendem Ausmaß steigert.

Eine niederländische Forschungsgruppe hat im Rahmen der placebokontrollierten, randomisierten Doppelblindstudie „gut trainierte“ Probanden über acht Wochen mit rekombinantem humanen Erythropoetin behandelt und dann ihre Leistungen am Rad verglichen. Bei Maximalbelastung „unter Laborbedingungen“ wurden zwar „kleine“ Unterschiede festgestellt, die bei submaximaler Belastung und in einem „Real Life“-Radrennen unter Straßenbedingungen jedoch nicht verfizierbar waren. „Grundsätzlich ist die Studie aus wissenschaftlicher Sicht sicher gut gemacht“, meint Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Schobersberger, Leiter des In­stituts für Sport-, Alpinmedizin und Gesundheitstourismus, Tirol Kliniken Innsbruck und UMIT, Hall.

Er schränkt jedoch gleich ein: „Es gibt natürlich ein paar Dinge, die man kritisch beurteilen muss, wo die Autoren zum Teil aber auch Selbstkritik üben.“ Das beginne schon mit der Auswahl der Testpersonen. „Natürlich kann man keinen Spitzenathleten für eine Studie dopen“, hält Schobersberger fest, doch die angegebenen Leistungsparameter der Studienteilnehmer zeigten, dass es sich nur um „gut, aber nicht sehr gut trainierte“ Probanden gehandelt habe.

Größter Effekt im Training

Auch sei der gemessene Einfluss auf die maximale Leistung deutlich relevanter als die Studienautoren ihn einschätzen, meint Schobersberger, denn „gerade bei Rennen mit Bergetappen“ komme der Sportler schnell in einen Bereich, der in die Maximalleistung hineinreiche. Der österreichische Radfahrer Bernhard Kohl wurde 2008 bei der Tour de France Gesamt-Dritter – ein Triumph, der ihm nach der postiven Doping-Kontrolle wieder aberkannt wurde. Über EPO, das letztlich seine Karriere auf ihrem Höhenpunkt beendete, sagt Kohl heute gegenüber MT: „Wenn du eine Spritze EPO nimmst, bist du keine Sekunde schneller. Der größere Effekt ist, dass du mehr trainieren kannst und gleich regenerierst, dadurch bringst du schlussendlich eine bessere sportliche Leistung.“

Eine Ansicht, die auch Schobers­berger teilt: „Genau das haben die Studienautoren komplett übersehen.“ Auch beim Höhentraining ginge es vielfach darum, nach der Rückkehr ins Tal einfach auf einem höheren Niveau trainieren zu können. Auch an den in der Studie untersuchten Parametern übt Schobersberger Kritik: Der Hämatokrit sei zur Beurteilung der EPO-Wirkung nicht geeignet. Er lasse nicht einmal Rückschlüsse darauf zu, ob jemand mit EPO gedopt sei. Wenn zusätzlich das Plasmavolumen zunehme, sei der Hämatokrit gar nicht oder „zumindest nicht markant“ erhöht. In Sachen Leistungsfähigkeit sei die zirkulierende Hämoglobinmasse, das sogenannte „total hemoglobin“, am aussagekräftigsten. „Das ist eigentlich der beste und stabilste Prädiktor, und der ist nicht mitgemessen worden“, bemängelt Schobersberger.

Auch bei Doping-Kontrollen orientiere man sich längst nicht mehr an Hämatokritgrenzen. „Hämoglobin und Hämatokrit als Einzelparameter für einen Verdacht hat man komplett verworfen“, erklärt der Sportmediziner. Sie tragen nur mehr als Puzzlesteinchen zu einem Gesamtbild bei. „Im Athletic Biological Passport gehen verschiedene Blutparameter in ein Kalkulationstool ein und über den Zeitverlauf sieht man sich dann an, ob Werte und Schwankungen vernünftig sind oder nur durch Doping erklärbar“, erklärt Schobersberger.

Die Praxis der illegalen Anwendung habe sich stark verändert, wie der Sportmediziner berichtet: „Das reine EPO-Doping, wie es in der Studie gemacht wurde, ist eigentlich out.“ Sportler, die heute mit unerlaubten Mitteln ihre Leistung steigern wollen, hätten die Taktik deutlich verfeinert: „Heute gibt es Mikrodosierungen. Die Leute pushen sich zuerst ein paar Wochen mit normalem EPO-Doping und halten die Wirkung mit geringen Dosierungen, die sie jeden zweiten oder dritten Tag spritzen, aufrecht.“ Die Wahrscheinlichkeit, Dopingkontrollen zu bestehen, sei so viel höher. Während Dosierungen, wie sie in der Studie verwendet wurden, etwa eine Woche lang nachweisbar seien, seien Mikrodosierungen oft schon nach zehn bis 20 Stunden abgebaut. „Also ist es immer eine Frage des Zeitfensters, wann kommt der Doping-Kontrolleur und nimmt mir Blut ab“, schließt der Arzt.

Krebsverdacht

Abgesehen vom Risiko, erwischt zu werden, und dem Wunsch nach einem „sauberen“ Sport sprechen auch gesundheitliche Gründe gegen den EPO-Missbrauch. „Studien zu den Langzeitfolgen gibt es keine und wird es vermutlich auch nie geben“, schränkt Schobersberger ein. Doch aus der Klinik wisse man, dass es nach dem Absetzen eine gewisse Zeit dauern könne, bis die Produktion des körpereigenen Erythropoetins wieder voll anlaufe. „Es wird vermutet, dass man dann sogar Gefahr läuft, anämisch zu werden“, berichtet der Sportmediziner.

Doch langfristig können noch weit schwerwiegendere gesundheitliche Schäden drohen, wie Schobersberger erklärt: „Es wird diskutiert, dass EPO ja auch eine Art Wachstumshormon ist, wo nicht ausgeschlossen ist, dass in zehn bis 20 Jahren einmal die ersten mit EPO assoziierten Tumorfälle auftreten.“ Harmlos sei die Sub­stanz daher auf gar keinen Fall. Mit der Vergangenheit hat Kohl mittlerweile abgeschlossen und konstatiert im MT-Gespräch trocken: „Heute bin ich froh, dass sie mich relativ früh erwischt haben, denn hätten sie mich nicht erwischt, hätte ich weitergemacht.“

„Dass Spitzensport nicht gesund ist, ist klar“

Nach einer positiven Dopingkontrolle nahm die Karriere von Radprofi Bernhard Kohl vor neun Jahren ein jähes Ende. Das Radfahren ist aus seinem Leben trotzdem nach wie vor nicht wegzudenken. Mit einem Fahrradgeschäft hat er sich eine neue Existenz aufgebaut und seine Kinder bringt er mit dem Lastenrad in den Kindergarten.

Wie haben Sie den Ausstieg aus dem Spitzensport gesundheitlich verkraftet?

Kohl: Mein Trainingspensum davor war mit 35.000 Kilometern im Jahr sehr hoch. Ich habe dann ein Jahr lang relativ gut weitertrainiert. Das hat mir vom Kopf her gutgetan. Beim Radfahren kann man gut abschalten und nachdenken. Wenn man nur daheimsitzt, fällt einem die Decke auf den Kopf.

Gab es in Ihrer aktiven Zeit im Spitzensport medizinische Probleme?

Kohl: Im Vergleich zu anderen Sportarten ist der Radsport gelenksschonend. Ein Marathonläufer schafft nur drei Marathons im Jahr, weil er sonst körperlich nicht mehr kann. Als Radfahrer hast du zirka 100 Renntage im Jahr und Gelenksprobleme gibt es keine.

Das Körpergewicht scheint im Radsport ja ein großes Thema zu sein …

Kohl: Jeder Bergfahrer versucht auszuloten, wie weit er mit dem Gewicht runtergehen kann. Ich hatte im Kopf: Je leichter ich bin, desto schneller fahre ich bergauf. Die Leistung ist dann irgendwann einfach abgesackt. Wenn mir aber Trainer und andere Radfahrer gesagt haben, dass ich zu leicht bin, habe ich das als Lob gesehen und als Bestätigung, noch weniger zu essen. Als es mir aber mein bester Freund gesagt hat, habe ich es verstanden.

Was überzeugt Sie am Radsport aus gesundheitlicher Sicht?

Kohl: Ausdauersport ist prinzipiell gut. Im Unterschied zum Fußball gibt es keine Bandverletzungen. Der Profisport ist wieder anders, weil er es ex­trem betreibt. Dass Spitzensport nicht gesund ist, in der Art, wie es auch der Radsport betreibt, ist klar. Bei mir ist noch die „Medizin“ dazugekommen. Dass das nicht gesund ist, ist auch irgendwie logisch.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune