Wenn das Internet krank macht

SUCHTGEFAHR . Ein Streifzug durch das breite Feld der problematischen Nutzung neuer Medien zeigt, dass sich hier neue Gefahrenfelder aufgetan haben und therapeutische Angebote der Realität meist weit hinterherhinken. (Medical Tribune 28/2017)

Bilder wie dieses prägen immer mehr unseren Alltag – ab einem gewissen Punkt ist jedoch Gefahr in Verzug.
Bilder wie dieses prägen immer mehr unseren Alltag – ab einem gewissen Punkt ist jedoch Gefahr in Verzug.

Die Grundlagen für das World Wide Web wurden zwar schon 1989 am Kernforschungszentrum CERN geschaffen, doch der Siegeszug des Internets begann erst 1993 mit dem ersten grafikfähigen Webbrowser „Mosaic“. Obwohl es in den ersten Jahren noch kaum Inhalte gab, wurde die Internet-Sucht bereits 1995 vom amerikanischen Psychiater Ivan Goldberg als neue Krankheit beschrieben. „Zum exzessiven, unkontrollierten Internet-Gebrauch, der zum wesentlichen Lebensinhalt des Betroffenen wird, kommt es vor allem deshalb, weil das Internet wie kein anderes Suchtmedium sämtliche menschlichen Bedürfnisse befriedigen kann“, versucht Prim. Dr. Roland Mader, Leiter der Abteilung III am Anton-Proksch-Institut, Wien, das hohe Suchtpotenzial zu erklären: Der Wunsch nach Kommunikation und Zugehörigkeit wird in Chats oder Social Networks erfüllt, man kann dem Spieltrieb nachgehen, mit der eigenen Identität spielen oder sexuelle Fantasien ausleben. Als Paradebeispiel für eine Online-Sucht nennt Mader das Online-Rollenspiel World of Warcraft (WoW), bei dem die Spieler sich in einer Fantasiewelt einen Avatar mit besonderen Fähigkeiten schaffen. Beim Ausstieg aus dem Spiel ist die große therapeutische Herausforderung, sich von der virtuellen Figur zu lösen. Mittlerweile kann man seinen Avatar auf einem Friedhof online begraben. Dieses therapeutische Tool zeigt, wie schwer die Behandlung Betroffener ohne entsprechendes Hintergrundwissen ist.

Von Cybersex zu Cybersexzess

„Die Nutzungsdauer ist kein Indiz für eine eventuelle Gefährdung“, betont Mader. „Ob intensives Spielen am Computer eher eine Flucht aus der sozialen Realität ist und zur Isolation führt oder ob das Spielen mit Freunden die soziale Vernetzung sogar stärkt, hängt sehr viel von der Resilienz der Spieler ab.“ Neben Spielsüchtigen weisen mittlerweile immer öfter auch intensive Nutzer sozialer Medien klassische Anzeichen einer Suchterkrankung auf (Kontrollverlust, sozialer Rückzug, Leistungseinbußen, Entzugserscheinungen, …). Relativ große Suchtgefahr besteht auch bei der Online-Pornographie, dem am schnellsten wachsenden Bereich im Internet. Die Mannigfaltigkeit des Materials, die niedrige Zugangsschwelle und die Möglichkeit, mit anderen zu interagieren und in virtuelle Rollen zu schlüpfen, bietet viel Raum zum Experimentieren. „Wenn das Internet jedoch nur noch dazu dient, erotische und pornographische Inhalte zur Selbstbefriedigung zu liefern oder rasche Kontakte mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern herzustellen, wird Cybersex zu Cybersexzess, der Sexsucht im Internet“, warnt der Psychiater.

Cybermobbing und FOMO

„Mobbing hat es schon immer gegeben“, erklärt Mader und erinnert an Mitschüler, die früher gehänselt wurden und nicht dazugehört haben. Beim Cybermobbing läuft Ähnliches zum Beispiel über WhatsApp-Gruppen, von denen man ausgeschlossen wird. „Das große Problem dabei ist, dass heute das Mobbing-Medium immer dabei ist.“ Früher fand ein gemobbter Schüler in der Regel zumindest noch in der Familie Schutz. WhatsApp verfolgt Betroffene hingegen auch zu Hause. Untersuchungen zeigen, dass jeder fünfte Schüler im Internet schon einmal direkt bedroht oder beleidigt wurde. Wie gefährlich das Teilen privater Inhalte in sozialen Netzwerken sein kann, zeigt sich auch am neuen Trend „Nudies“: Nacktfotos, die in Beziehungen als Vertrauensbeweis verschickt werden, werden bei Beziehungsproblemen nicht selten für Mobbing-Attacken verwendet. Beispiel für eine neue Störung, die noch nicht offiziell als Krankheit anerkannt ist, aber für erheblichen Stress sorgt, ist FOMO: die Angst, etwas zu verpassen (= fear of missing out), ist vor allem bei jungen Männern verbreitet. Der Zwang, ständig nachsehen zu müssen, ob jemand eine neue Facebook- und WhatsApp-Nachricht geschickt hat, führt zu einer besonders intensiven Nutzung sozialer Medien.

Dr. Google und Cyberchondrie

Ein Kollege, der schon manchem behandelnden Arzt das Leben schwer gemacht hat, ist der ständig verfügbare Dr. Google. „55 Prozent der Deutschen googeln Krankheitssymptome, bevor sie zum Arzt gehen“, so Mader. Zum Problem kann das dann werden, wenn Patienten mit selbsterstellten Vordiagnosen in die Ordination kommen. Im Internet gibt es natürlich eine große Menge an medizinischen Informationen. Was Patienten aber oft nicht richtig einschätzen können: Angaben zu seltenen Erkrankungen sind viel häufiger zu finden, als es ihrem eigentlichen Auftreten entsprechen würde. Von der Eingabe „häufig Kopfschmerzen“ ist der Weg zum „Hirntumor“ im Internet nicht weit. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass bei Menschen mit hypochondrischen Tendenzen häufig pathologische Zustände durch Informationen aus dem Internet ausgelöst oder verstärkt werden (= Cyberchondrie).

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune