Interview: “Es darf keine isolierte Betrachtung mehr geben”

Die neue Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB), Direktorin Univ.-Prof. DDr. Gabriele Sachs, unterstreicht die Bedeutung der neurobiologischen Forschung sowie der Entwicklung neuer therapeutischer Strategien. Persönlich zeigt ihr die Neurobiologie, wie sich vielfältige berufliche Anforderungen in Medizin und Wissenschaft bewältigen lassen.

  • CliniCum neuropsy: Was haben Sie sich konkret für Ihre Präsidentschaft in der ÖGPB vorgenommen?
  • Sachs: Schon jetzt werden die Aktivitäten der ÖGPB mit sehr viel Engagement umgesetzt, etwa durch die Organisation der Tagungen oder die laufende Herausgabe von Konsensus-Statements. Diesen Weg möchte ich fortsetzen, besonders aber die Gesellschaft in ihren Anliegen bei Forschung und Weiterbildung in der Neuropsychopharmakologie und biologischen Psychiatrie unterstützen. Die Tagungen der ÖGPB sehe ich hier als ein „Schaufenster“ an, in dem die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Neuropsychopharmakologie und biologischen Psychiatrie vorgestellt werden. Ein weiteres Anliegen ist mir die Facharztausbildung bzw. -fortbildung und hier wiederum die Vermittlung von Konzepten des zielgerichteten Einsatzes pharmakologischer Strategien in einem psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsplan. Auch Allgemeinmediziner und nicht psychiatrische Fachärzte sollen künftig verstärkt über die Fortbildungs-Akademie der ÖGPB ein tiefes Verständnis über neurobiologische Behandlungsmöglichkeiten erlangen – immerhin wird ein Großteil psychiatrischer Patienten beim Allgemeinmediziner oder anderen Fachärzten behandelt.
  • CliniCum neuropsy: Wo sieht die ÖGPB die wichtigsten Anliegen in der Kooperation mit anderen medizinischen Fachdisziplinen?
  • Sachs: Konkret planen wir, unsere Aus- und Fortbildungsangebote auszuweiten, und starten demnächst eine entsprechende Initiative speziell für Internisten. Eine ganz besonders enge Kooperation haben wir mit Kollegen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Gerade hier gibt es noch viele offene Fragen, etwa die Früherkennung psychotischer Erkrankungen oder den richtigen Zeitpunkt des Beginns der Psychopharmakotherapie. Unverändert liegt das Augenmerk auf der Fortbildung von Kollegen in der Psychiatrie mit Hilfestellungen für die Wahl der jeweils optimalen Medikation in der Praxis; ein gutes Beispiel dafür ist unser aktuellster Konsensus zum Thema „Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall“
  • CliniCum neuropsy: Sie referieren auch in der Öffentlichkeit über die Bedeutung des dualen Therapieprinzips in der Psychiatrie – sehen Sie dies als eine gesundheitspolitische Aufgabe an?
  • Sachs: Sicher versuche ich bei jeder Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen und die Bedeutung einer Kombinationsbehandlung aus Pharmakound Psychotherapie zu betonen: Es gibt keinen Therapieerfolg ohne die Veränderung neurobiologischer Prozesse im Zentralnervensystem. Aufgrund der neuen Forschungsergebnisse und vor allem der Ergebnisse bildgebender Verfahren darf es einfach keine isolierte Betrachtung mehr geben. Wir wissen heute zudem aus klinischen Daten, dass die Kombinationsbehandlung bei einigen Störungen die Rezidivraten deutlich senkt. Die sorgsame Wahl des Psychopharmakons steht in vielen Fällen am Anfang der Therapie, weitere Methoden wie etwa neurokognitives Training können zudem beitragen, etwa die psychosoziale Funktionsfähigkeit zu verbessern.
  • CliniCum neuropsy: Wo liegt derzeit das Augenmerk in der Erforschung biologischer Korrelate seelischer Erkrankungen?
  • Sachs: Gerade in den letzten Jahren konnten wir viele spannende Errungenschaften verzeichnen: Sie zeigen, dass die klinische Neurowissenschaft zunehmend als „die“ Leitwissenschaft für die Erforschung des Gehirns angesehen werden kann. Grundsätzlich müssen wir also die Erkrankungen des Gehirns ganzheitlich betrachten und biochemische, zelluläre und funktionale Korrelate untersuchen. Alle Erkrankungen des Gehirns gehen mit unterschiedlichen Folgen einher, die sich auf Basis dieser Korrelate immer besser erklären lassen – von Störungen der Reizwahrnehmung bis hin zur Beeinträchtigung höherer kognitiver Fähigkeiten wie Sprache oder Emotionsverarbeitung. Daraus ergibt sich für Forschung und Praxis die absolute Notwendigkeit einer Vernetzung der Fächer. Besonders spannende Ergebnisse haben wir jüngst aus der Genetik erhalten, wo eine hohe gemeinsame genetische Disposition für verschiedene psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie und bipolare Störungen gezeigt wurde. Zur europaweiten Studie über Gen-Umwelt-Interaktionen bei Schizophrenie erwarten wir im Lauf des nächsten Jahres erste Daten.
  • CliniCum neuropsy: Welche der noch offenen Fragen in der biologischen Psychiatrie möchten Sie sobald als möglich erforscht und damit beantwortet wissen?
  • Sachs: Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten ist es fast unmöglich, hier ein Thema an die Spitze zu stellen. Ganz wesentlich ist aber sicher die weitere Erforschung der Stoffwechselvorgänge im Gehirn mit modernen bildgebenden Verfahren, aber auch der gesamte Bereich der Gerontopsychiatrie. Nicht zuletzt müssen wir uns an der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Erkrankungen orientieren: Laut Weltgesundheitsorganisation WHO werden Depressionen 2030 die Gesundheitswesen in industrialisierten Ländern am meisten belasten, schon bald dahinter rangieren Demenz und Alkoholerkrankung. Dabei hoffen wir, dass sich in Kombination mit der Ursachenforschung jeweils neue therapeutische Strategien ergeben.
  • CliniCum neuropsy: Inwieweit ist nach Ihrer Ansicht eine Gender-gerechte Medizin in der Psychiatrie auf Basis neurobiologischer Erkenntnisse bereits abgebildet?
  • Sachs: Hier haben wir noch eine Menge Forschungsbedarf. Wenn wir etwa bei der Alkoholerkrankung bleiben, so wissen wir, dass Alkohol bei Frauen wesentlich langsamer abgebaut wird als bei Männern, und es wäre insgesamt spannend, die Mechanismen von Suchterkrankungen noch besser zu verstehen. Im Zusammenhang mit Veränderungen der Geschlechtshormone bei Frauen entsteht über die Stressachse auch eine unterschiedliche Vulnerabilität für seelische Erkrankungen. Deutlich wird dies am Beispiel der Post-Partum- Psychose, die in engem Zusammenhang mit dem abrupten Hormonabfall steht. Unter dem Aspekt der Gender-Medizin müssen wir uns aber genauso mit der Verstoffwechselung von Psychopharmaka näher befassen. Zunehmend erhalten wir Hinweise über den unterschiedlichen Wirkungsgrad und Metabolisierung der Medikamente – und dies nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch in Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft.
  • CliniCum neuropsy: Noch einmal zur Forschung: Wie können die vorhandenen Strukturen und Einrichtungen besser genützt werden, um die Entwicklung in Neurobiologie und Psychopharmakologie voranzutreiben?
  • Sachs: Wünschenswert ist eine Entwicklung, die noch mehr als bisher auf dem Ausbau von Exzellenz- bzw. Kompetenzzentren fußt, wo von der Grundlagen- bis zur klinischen Forschung die vorhandene Expertise zusammenfließt. Ebenso werden wir den Fokus auf die Anwendungsforschung legen müssen. Eine Möglichkeit dazu ist sicher die Kooperation mit der ÖAMSP, der Österreichischen Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie, um den vorhandenen Datenpool für die klinische Forschung besser nutzen zu können.
  • CliniCum neuropsy: Abschließend noch eine persönliche Frage: Sie leiten seit 2012 als Ärztliche Direktorin eines der größten neuropsychiatrischen Krankenhäuser Österreichs mit 1.800 Mitarbeitern und 670 Betten – wie gehen Sie persönlich an die vielfältigen Anforderungen heran, die Ihre Aktivitäten als Ärztin, Wissenschafterin und nun auch Präsidentin der ÖGPB mit sich bringen?
  • Sachs: Auch da möchte ich Ihnen eine neurobiologische Antwort geben: Ein noch recht junges Forschungsergebnis zeigt uns, dass körperliche Aktivität die Autophagie der Nervenzellen und damit gewissermaßen ein „Recycling“ im Gehirn fördert. Das bedeutet, die Zellen entsorgen durch Autophagie nicht mehr funktionstüchtige oder verbrauchte Organellen. Die Neurobiologie zeigt uns, wie bedeutsam die vielfältige Stimulation des Gehirns ist. Für mich persönlich ist es einfach wichtig, im Alltag ganz unterschiedliche Dinge zu machen, seien es Besprechungen, Vorträge oder Organisationsaufgaben. Auch in der Freizeit integriere ich dieses Konzept durch sportliche Aktivität, Musik oder Yoga, um auch für Abwechslung zwischen An- und Entspannung zu sorgen. Wir müssen die Fülle des Lebens ganz einfach neurobiologisch verstehen.
  • Vielen Dank für das Gespräch!

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy