Mentales Training in der Medizin
Was im Spitzensport seit vielen Jahren „State of the Art“ ist, erweist sich auch in der Medizin als gewinnbringend: das Trainieren komplexer Bewegungsabläufe in der Vorstellung. Ärztinnen und Ärzte optimieren damit Präzision und Sicherheit bei manuellen Tätigkeiten auch in Notfall-Situationen.
Ein chirurgischer Eingriff, eine invasive Untersuchungsmethode oder die Reanimation nach einem Herzstillstand: Stets geht es um exakt durchgeführte Handlungsabläufe, wo tatsächlich jeder Handgriff sitzen muss. Vor ganz ähnlichen Herausforderungen stehen Leistungssportlerinnen und Leistungssportler, die ihr trainiertes Handlungsrepertoire unter mentalem Druck und/oder widrigen Bedingungen abrufen müssen. Das mentale Training – also das Simulieren von Bewegungsabläufen in der Vorstellung – gehört daher zu den Eckpfeilern des sportlichen Trainings und der Wettkampf-Vorbereitung.
Vor rund 25 Jahren hat das mentale Training auch in die Medizin, und hier zunächst in die Ausbildung von Chirurginnen und Chirurgen, Einzug gehalten. Aber auch in der Zahnmedizin oder in allen Fächern, in denen komplexe manuelle Tätigkeiten gefordert sind, wird es mittlerweile mit Erfolg angewendet.
Ausgangspunkt des mentalen Trainings ist zunächst die exakte Beschreibung der Handlung, etwa für das Setzen einer Zahnkrone. Dazu werden sogenannte Knotenpunkte definiert, also Bewegungskomponenten, die unbedingt erforderlich sind, in einer bestimmten Reihenfolge ausgeführt werden müssen und die keine Freiheitsgrade zulassen. Anhand dieses „Skripts“ wird ein innerer Film vom Bewegungsablauf erstellt und in der Vorstellung trainiert. Genau wie im Sport funktioniert das mentale Training nur in Kombination mit einem praktisch durchgeführten Training, es ist also nicht möglich, einen gänzlich neuen Bewegungsablauf damit zu erlernen.
Abrufen des Gelernten auch unter Stress
Ein häufiger Vorbehalt gegenüber dem Mentalen Training lautet übrigens, dass es nie alle möglichen Varianten der Situation berücksichtigen könne. Stimmt, antworten darauf Sportpsychologinnen und -psychologen. Allerdings setzt das rasche Reagieren auf unerwartete Bedingungen voraus, dass der „Standardablauf“ exakt beherrscht wird. Damit werden ausreichend mentale Kapazitäten frei, um auf Ablenkungen oder Störungen zu reagieren. Für eine Reihe von operativen Eingriffen gibt es bereits OP-Fibeln mit exakten Anleitungen für das mentale Training, die im Springer-Verlag auch in mehreren Sprachen erschienen sind.
Das mentale Training in der Medizin bewährt sich vor allem bei Abläufen, die in der Praxis nur schwer trainierbar sind, und wird beispielsweise in Kombination mit dem Training an „Dummies“ durchgeführt. Denn es macht lernpsychologisch einen deutlichen Unterschied, ob ein Ablauf nur auswendig gelernt oder möglichst lebhaft viele Male mental geübt wird. Auch bei Schulungen auf neue Techniken oder Geräte kann es eingesetzt werden. Erfahrene Trainerinnen und Trainer achten darauf, in der Anweisung die Abläufe entlang der Knotenpunkte zu erklären, und weisen die Teilnehmenden auf die Möglichkeit der mentalen Simulation hin. Allerdings sollte beim Erlernen von neuen Techniken der Fokus auf den Wechsel zwischen mentalen und praktischen Trainingseinheiten gelegt werden, um den trainierenden Personen die Möglichkeit zu geben, das mentale Durchspielen der Bewegung der realen Bewegungsausführung anzugleichen.
Wie ein Elfmeter-Schütze im Fokus
Natürlich kann es nie eine hundertprozentige Garantie dafür geben, dass die vorgestellte Handlung auch in der Realität immer exakt und fehlerfrei durchgeführt wird – aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist größer! Es funktioniert genauso wie bei einem Elfmeter-Schützen, der vorab präzise visualisiert, wo und wie er den Ball in das gegnerische Tor schießt.
Beschäftigt er sich dagegen mit Gedanken über einen Fehlschuss und dessen negative Konsequenzen vor Tausenden von Zuschauerinnen und Zuschauern, sinkt seine Chance, das Tor tatsächlich zu erzielen, rapide. Sein Fokus läge dann eben nicht auf der Bewegungsausführung an sich, sondern auf zeitlich nachgelagerten hypothetischen negativen Ereignissen. Das mentale Training fördert also im Moment der Ausführung die vollständige Konzentration auf die Aufgabe und lässt keinen Raum für Gedanken an ein mögliches Versagen in einer Stresssituation.
Eine Weiterentwicklung des mentalen Trainings ist die Anwendung durch Patientinnen und Patienten in der Rehabilitation nach Operationen oder Unfällen. Sie simulieren damit etwa das Gehen nach einer Hüft- oder Knieoperation und teilen damit die positiven Erfahrungen von Spitzensportlerinnen und -sportlern, die mithilfe des Vorstellungstrainings nach Verletzungen früher und eher schmerzfrei wieder in das Training einsteigen können. Basis der Wirkung des mentalen Trainings sind von den Bewegungszentren im Gehirn ausgehende nervale Stimulationen auf den Bewegungsapparat.
Trainieren in der Vorstellung: So funktioniert es!
Mentales Training oder „Trainieren in der Vorstellung“ beginnt mit einer kurzen Entspannungsphase. Dies gelingt beispielsweise, indem man einige Atemzüge lang nur dem unwillkürlichen Ein- und Ausatmen folgt. Dann führt man die gewünschte Handlung in der Vorstellung möglichst lebhaft unter Einbeziehen mehrere Sinnesmodalitäten durch, sieht z.B. die eigenen Hände arbeiten, hört die entstehenden Geräusche, nimmt Körperhaltung und Tastempfindung genauso wahr, wie den charakteristischen Geruch der Umgebung. Dies geschieht möglichst aus der Innenperspektive, also genauso, als ob man die Handlung tatsächlich ausführen würde. Es kann dazu die innere Anleitung leise mitgesprochen werden, etwa „Ich setze das Skalpell …“. Dies ermöglicht zudem eventuell anwesenden Ausbildnerinnen oder Ausbildnern zu überprüfen, ob der Ablauf wirklich exakt und in Echtzeit simuliert wird.
Unser Gastautor Dr. Marc Immenroth ist Sportpsychologe. Nach seinem Magisterstudium am Institut für Sport und Sportwissenschaft und seinem Diplom-Psychologie-Studium an der Universität Heidelberg arbeitete er zunächst in einer Arbeitsgruppe um führende deutsche Sportpsychologen und Experten für das Mentale Training im Leistungssport wie Hans Eberspächer, Hans-Dieter Hermann und Jan Mayer.
1996 hatte Immenroth die Idee, Mentales Training außerhalb des Leistungssports auch in der Chirurgie einzusetzen, und entwickelte in Kooperation mit der Universitätsklinik zu Köln mentale Trainingskurse für Chirurginnen und Chirurgen. Ab 2006 war Immenroth European Clinical Studies Manager bei der Johnson & Johnson Medical GmbH und arbeitete an der Weiterentwicklung mentaler Trainingstechniken für Ärztinnen und Ärzte. Er verfasste in mehreren Sprachen erschienene OP-Fibeln mit Anleitungen für das mentale Training. Auch von der deutschen Lufthansa wurde das mentale Training in der Zwischenzeit in der Pilotenausbildung eingeführt.
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