16. Juli 2020

Akuten Folgen psychischer Traumatisierung

Foto: Tashi-Delek/GettyImages

Ob es nach einem traumatischen Ereignis zu einer akuten Belastungsreaktion kommt, hängt nicht nur vom Erlebnis selbst ab. Kontext, Vulnerabilität und psychische Verarbeitung spielen eine Rolle. In einer Ersteinschätzung sollten entsprechende Risikofaktoren abklärt werden. (CliniCum neuropsy 2/20)

Etwa jeder Vierte im deutschsprachigen Raum muss damit rechnen, Opfer oder Zeuge eines traumatischen Ereignisses zu werden. Ob es dann zu einer akuten Stressreaktion, vielleicht sogar einer Traumafolgestörung kommt, hängt stark von der richtigen Frühintervention ab.

Akute Belastungs- oder Stressreaktion

Nicht immer führt ein Trauma unmittelbar zu Beschwerden. Manchmal entwickeln sich Symptome verzögert oder es manifestiert sich eine (chronische) Traumafolgestörung – ohne initiale Belastungsreaktion. Den zeitlichen Verlauf zu erfassen, ist also essenziell. In den meisten Fällen entstehen Symptome jedoch in den ersten Stunden bis Tagen nach dem Ereignis und klingen dann langsam ab, bis sie innerhalb der ersten Woche verschwinden. Mitunter dauert die Abklingphase auch mehrere Wochen. Oftmals erfolgt die psychosoziale Ersteinschätzung im Rahmen der medizinischen Primärversorgung (falls der Betroffene verletzt wurde). Ist dies nicht der Fall, wird so manche psychologische Frühdiagnostik verpasst. Zur Ersteinschätzung gehören psychischer Befund, äußere Sicherheit, verfügbare Ressourcen sowie Risikofaktoren.

Wenn möglich, sollten stets die akuten Symptome mit ihrer Intensität erhoben werden. Dabei entscheidet sich auch, ob es gegebenenfalls Spezialisten für Kriseninterventionen oder notfallpsychiatrische Maßnahmen braucht. Beim psychischen Befund stehen die Symptome der akuten Belastungs- oder Stressreaktion im Vordergrund. Darunter fallen unter anderem:

  • sich aufdrängende, belastende Gedanken, z.B. Albträume, „Flashbacks“ oder Erinnerungslücken;
  • intensive psychische Belastungen bei Konfrontation mit Triggerreizen;
  • Übererregungssymptome wie Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, Aggressionen;
  • depressive Reaktionen, Erleben von Scham und/oder Schuld;
  • Rückzug und Vermeidung traumaassoziierter Stimuli;
  • Substanzmissbrauch (z.B. Alkohol oder Benzodiazepine);
  • Derealisation;
  • unspezifische somatoforme Beschwerden, beispielsweise Erschöpfung, Schmerzen, Übelkeit, Blähungen.

Frühes Screening nicht überinterpretieren

Screeninginstrumente helfen dabei, Schutz- und Risikofaktoren und/oder psychische Symptome zu erkennen. Auch können sie eingesetzt werden, um die Indikation für eine Frühintervention zu stellen, so die Leitlinienautoren. Allerdings müsse man symptomorientierte Screenings in den ersten Tagen vorsichtig interpretieren. Schließlich hätten die Beschwerden unmittelbar nach dem Ereignis keine prognostische Bedeutung. Rückschlüsse auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) lassen sich also erst mit einem späteren Screening treffen . Nach Abschluss der akuten bzw. frühen Diagnostik sollte man Betroffenen eine spezielle psychotraumatologische Versorgung anbieten. Indem man Betroffene – sofern es die Umstände zulassen – über ihre Diagnose aufklärt, gibt man ihnen bereits ein wenig Kontrolle über die Situation und die folgenden Interventionen. Dazu gehört, sie wenn möglich über Risiken, Prognose und Kosten sowie Verfügbarkeit einer Behandlung zu informieren.

Psychologische Frühinterventionen

Als psychologische Frühinterventionen nennen die Leitlinienautoren drei Präventionsstrategien. Wann bzw. bei wem welche Maßnahmen zum Einsatz kommen, hängt von der Zielgruppe ab: Adressiert man die gesamte Bevölkerung (universelle Prävention)? Richtet man sich nur an jene, die ein erhöhtes Risiko tragen (selektive Prävention)? Oder wurde eine Gruppe identifiziert, die gescreente Risikofaktoren aufweist (indizierte Prävention)? Die meisten Betroffenen brauchen nach einem traumatischen Ereignis keine spezielle psychosoziale Unterstützung. Allerdings schätzen es viele, wenn man ihnen ein paar Informationen an die Hand gibt, zum Beispiel zu typischen Erlebnisprozessen, Bewältigungsstrategien oder konkreten Beratungsangeboten.

Die Autoren warnen ausdrücklich davor, Beteiligte direkt nach einem Trauma dazu zu drängen über ihre emotionalen Reaktionen zu sprechen. Zwingen Sie niemanden, Hilfe in Anspruch zu nehmen! Damit Bemühungen nicht ins Leere laufen, braucht es aufseiten der Betroffenen Bereitschaft. Ob eine psychologische Interventionstechnik zum Erfolg führt, hängt nicht nur von ihren spezifischen Wirkfaktoren ab. Auch allgemeine, von der gewählten Methode unabhängige Faktoren, sogenannte „Common Factors“, mischen mit. Diese umfassen Patienten- und Therapeutenvariablen, extratherapeutische Faktoren, Beziehungsaspekte und Erwartungseffekte. Besonders wichtig ist die Sicherheit der Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Polizisten, Feuerwehrleute, Soldaten, Rettungskräfte – sie alle tragen berufsbedingt ein erhöhtes Risiko für traumatische Ereignisse.

An sie richtet sich die selektive Prävention. Indizierte Präventionsmaßnahmen umfassen eher unspezifische Interventionen. In Einzelberatungen lernen Patienten unter anderem, aktiv mit Stress und Problemen umzugehen, eigene Ressourcen zu stärken und/oder sich gezielt zu entspannen. Wie in der universellen und selektiven Prävention kommt der Psychoedukation ein zentraler Stellenwert zu. Die Inhalte sind praktisch identisch: Stressreaktionen, posttraumatische Symptome, deren Verlauf und Tipps zur Bewältigung. Zeigen Betroffene eine erhöhte Symptomlast, steigt das Risiko einer Traumafolgestörung. In diesen Fällen raten die Experten, Patienten besonders in den ersten Wochen verstärkt zu beobachten und bei Bedarf eine Weiterbehandlung zu planen („watchful waiting“). Ein unterstützendes soziales Umfeld kann dabei helfen, akute Traumata zu verarbeiten.

Angehörige, Lebenspartner und andere nahestehende Personen können direkt in die Interventionen einbezogen werden. Nicht nur dass sich so die Chancen erhöhen, Folgestörungen im Keim zu ersticken, auch lassen sich so potenzielle Konflikte oder ein Substanzmissbrauch vorbeugen. In den ersten Stunden bis Tagen nach einem traumatischen Ereignis kann eine präventive Frühintervention darüber entscheiden, ob sich akute Belastungsreaktionen manifestieren und ggf. zu einer Traumafolgestörung führen. Zeigen Betroffene schwere dissoziative Symptome, starke Ängste oder Ähnliches, wird es Zeit für spezifische psychotherapeutische Lösungen.

Konfrontation erst imaginär, dann in der Realität

Obwohl verschiedene Interventionen zur Verfügung stehen, empfiehlt die Leitlinie einzig die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie. Diese Einzeltherapie besteht aus mehreren Bausteinen. Der Therapeut gibt einige Grundinfos zum Thema Trauma und Traumatherapie (Psychoedukation). Zudem erklärt und vereinbart er mit dem Patienten notwendige Expositionsübungen. Sie bilden das Herzstück der Behandlung. In der Regel startet man sanft und konfrontiert Betroffene in ihrer Vorstellung mit ihrem Trauma, später wird die Situation im Realen durchgespielt. Einen weiteren essenziellen Baustein bildet die kognitive Umstrukturierung. Darüber hinaus bekommt der Patient Hausaufgaben, in denen die Inhalte der Sitzung vertieft oder zusätzliche Übungen erlernt werden sollen.

Einsatz von Medikamenten

Unter Umständen fördert ein gezielter Einsatz von Medikamenten die psychotherapeutischen Bemühungen. Psychopharmaka unterstützen die Versuche, akute Symptome wie schwere Angstzustände, Schlafstörungen, psychomotorische Verhaltensweisen etc. zu kontrollieren und damit einer möglichen Chronifizierung entgegenzuwirken. Die Leitlinienautoren betonen jedoch, dass man – sofern keine Suizidalität besteht – mit der Gabe warten und zunächst nicht-medikamentöse Maßnahmen versuchen sollte. Anhand der Datenlage lässt sich nicht zuverlässig sagen, wie effektiv Psychopharmaka bei akuten posttraumatischen Folgestörungen wirken. Forscher haben sich meist auf die PTBS fokussiert. So auch in Studien zu den Antidepressiva Paroxetin und Sertralin, die in der Leitlinie als Optionen genannt werden.

Kritisch sollte man die Indikation von Benzodiazepinen abwägen. Denn ein Präventivschlag gegen Traumafolgestörungen gelingt mit ihnen nicht, urteilen die Experten. Vielmehr können sich unter einer längeren Einnahme Depressionen entwickeln und bestehende PTBS-Symptome verschlechtern. Morphine scheinen Verletzten auch psychisch zu helfen. Außerdem hemmt ein Dauereinsatz womöglich die zerebrale Informationsverarbeitung. Nur zwei Fälle rechtfertigen einen Gebrauch:

  • Mittel erster Wahl bei Suizidgedanken oder -tendenzen im Zuge einer beginnenden Antidepressivabehandlung
  • massive Schlafprobleme, Angstzustände oder starkes Rückzugsverhalten (Mittel zweiter Wahl, Einnahme max. eine Woche)

Für Antipsychotika existiert zwar ebenfalls keine zuverlässige Evidenz, Einzelfallberichte deuten aber darauf hin, dass sich insbesondere atypische Neuroleptika in der Akutintervention eignen. Im engen Rahmen seiner (Kontra-) Indikation existieren auch positive Daten für Hydrocortison. Morphine scheinen Verletzte vor einer PTBS-Symptomatik zu schützen.

S2k-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung“, AWMF-Register Nr. 051-027, www.awmf.org

Schutz- und Risikofaktoren für posttraumatische Reaktionen

  • Schutzfaktoren: soziale Unterstützung, hohe Selbstwirksamkeitserwartung, hohes Kohärenzgefühl, Schutz vor zusätzlichen Belastungen
  • prätraumatische Risiken: frühere Traumatisierungen und kritische Ereignisse, frühere/aktuelle psychische Erkrankungen, Selbstabwertung, unsichere soziale und/oder finanzielle Lebensbedingungen
  • peritraumatische Risiken: schweres Trauma (z.B. Schädel-Hirn-Trauma), starke erlebte Bedrohung, starke emotionale/psychophysiologische Reaktion
  • posttraumatische Risiken für Traumafolgestörungen: depressive Symptome, anhaltende Symptome des akuten Traumas, (fortgesetzte) Dissoziationsneigung, negative Gedanken zum Ereignis/sich selbst/der Welt, kognitive Vermeidung und Vermeidungsverhalten, geringe Selbstwirksamkeitserwartung, anstehende juristische Klärung etc.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy