Forschung beruht zu einem großen Teil auf Vertrauen

Univ.-Prof. Dr. Barbara Obermayer-Pietsch, die neue Präsidentin der Österreichischen Plattform für Personalisierte Medizin (ÖPPM), beschäftigt sich mit ihrer Arbeitsgruppe an der Universitätsklinik für Innere Medizin Graz unter anderem mit den Themen Knochen- und Energiestoffwechsel, Fertilität, Mikrobiom und Autoimmunologie – Forschung über die Grenzen einzelner Fächer hinweg als Wissenschaftscredo und zugleich als Garant für zahlreiche spannende Projekte. (CliniCum|innere 02/20)

CliniCum innere: Die Corona-Krise ist sicher auch eine große Herausforderung für den Vorstand der ÖPPM. Videokonferenzen statt persönlicher Begegnungen – ist das ein Modell für die Zukunft der wissenschaftlichen Zusammenarbeit?

Obermayer-Pietsch: Ja, das ist wirklich eine herausfordernde Zeit. Kongresse mussten abgesagt oder verschoben werden, Veranstalter bleiben auf den Stornokosten sitzen und viele Gesellschaften haben versucht, Fortbildung online zu organisieren. Videokonferenzen sind sehr nützlich, aber sie sind auch anstrengend. Oft versteht man die Teilnehmenden schlecht und man bekommt kaum ein Feedback. Das ist nur ein schwacher Ersatz für ein persönliches Treffen. Forschung beruht zu einem ganz großen Teil darauf, dass ich der Person, mit der ich forsche, vertrauen kann. Wenn man jemanden einmal persönlich getroffen und sich über längere Zeit ausgetauscht hat, entwickelt sich eine ganz andere Basis.

Seit fast zehn Jahren gibt es an der Medizinischen Universität Graz das Projekt „BioPersMed“. Welche Daten werden im Rahmen dieser Langzeituntersuchung erhoben?

„BioPersMed“ heißt „Biomarker für personalisierte Medizin“, das ist Forschung mit dem Ziel, relevante Biomarker für sogenannte „Volkskrankheiten“ wie Zuckerkrankheit, Herzinfarkt oder Osteoporose zu identifizieren und zu validieren. Dafür werden von den über 1.000 Teilnehmern in regelmäßigen Abständen verschiedenste Parameter aus den Bereichen Endokrinologie und Stoffwechsel, Kardiologie, aber auch Augenheilkunde erhoben. Das Spektrum der Untersuchungen reicht von einem vollständigen kardiologischen Work-up, Knochendichtemessung und Zuckerbelastungstest bis zu verschiedensten Blutuntersuchungen.

Eines Ihrer aktuellen Forschungsprojekte, bei dem Sie auf BioPersMed-Daten zurückgreifen, beschäftigt sich mit dem Knochenstoffwechsel bei Diabetes. Haben Betroffene nicht meist eine relativ hohe Knochendichte?

Das Problem ist, dass Personen mit Diabetes zwar meist relativ dicke Knochen und eine hohe Knochendichte haben, der Knochen aber sehr brüchig ist. Menschen mit Diabetes haben zwei- bis zwölfmal mehr Knochenbrüche als Gesunde und die Frakturen heilen auch schlechter. Eine Knochendichte, die im oder sogar über dem Altersnormbereich liegt, sagt hier also relativ wenig aus. Zurzeit gibt es keine verlässlichen Risiko-Marker für die Bestimmung des Knochenbruchrisikos bei Diabetes. In der Bildgebung gibt es den „Trabecular bone score“ (TBS), ein Softwareprogramm, mit dessen Hilfe aus Knochendichte-Messungen der Wirbelsäule die trabekuläre Mikroarchitektur des Knochens abgeschätzt werden kann.

Wenn Betroffene trotz hoher Knochendichte schlechte TBS-Werte haben, ist das ein Hinweis auf ein hohes Frakturrisiko. Diabetikerinnen und Diabetiker haben aber nicht nur eine schlechtere trabekuläre Vernetzung, sondern auch eine löchrige Corticalis. Neben den Störungen des Knochenstoffwechsels trägt zusätzlich die erhöhte Sturzneigung durch die diabetische Polyneuropathie, Retinopathie, Muskelschwäche und andere Komorbiditäten zur höheren Frakturrate bei.

Da Knochendichtemessungen bei Diabetes oft irreführend sind, ist es nun Ihr Ziel, Serummarker zu finden, die Auskunft über die Knochengesundheit liefern?

Genau! Ein vielversprechender Ansatz dafür sind z.B. microRNAs. Diese im Schnitt nur 21 bis 23 Basenpaare langen, nicht-kodierenden RNA-Moleküle beeinflussen über verschiedene Mechanismen die Ablesevorgänge der Ribosomen und damit die Bildung von Proteinen. MicroRNAs sind wichtige Stellgrößen der Genexpression. Mittlerweile kennt man mehrere Tausend dieser regulatorischen RNAMoleküle. MicroRNAs sind Messenger, die zu einem bestimmten Zweck aktiv in die Blutbahn ausgeschüttet werden, dort zum Teil frei vorliegen, an Eiweiße gebunden sind oder in Exosomen transportiert werden und an anderen Stellen des Körpers ihre Wirkung entfalten.

Das ähnelt der Wirkungsweise von Hormonen. In der Endokrinologie bezeichnen wir microRNAs daher manchmal auch als „neue Hormone“. Neben den microRNAs untersuchen wir zusätzlich lange nicht-kodierende RNA-Moleküle mit mehr als 200 Nukleotiden, die ebenfalls an der Genregulation beteiligt sind. Mittlerweile ist klar, dass es offenbar keine „Junk-DNA“, also unsinnige Teile der DNA, gibt, sondern all die verschiedenen nicht-kodierenden Abschnitte unseres Erbgutes Informationen enthalten, die für die Steuerung von Zellabläufen essenziell sind.

Eine andere Frage, mit der sich Ihre Arbeitsgruppe beschäftigt, sind Therapieoptionen für junge Menschen mit Osteoporose …

Es gibt öfters Menschen, die vor dem 50. Lebensjahr eine Osteoporose entwickeln. Wenn bereits in jungen Jahren ein Knochenbruch auftritt, dem kein schwerer Unfall zugrunde liegt, sollte das entsprechend abgeklärt werden. Fast immer findet man dann irgendeine sekundäre Ursache, sei es eine Schwangerschaftsosteoporose, einen Morbus Cushing, eine unerkannte Osteogenesis imperfecta, aber auch Hyperparathyreoidismus, Schilddrüsenerkrankungen, Hyperkalzurie oder eine andere Ursache. Die Herausforderung ist, dass junge Menschen mit einer Osteoporose unter Umständen jahrzehntelang therapiert werden müssen.

Bisphosphonate sind nicht nur bei Kinderwunsch problematisch, sondern wegen möglicher Komplikationen wie Kieferosteonekrosen und atypischen Femurfrakturen auch in der Langzeittherapie für diese Personengruppe fragwürdig. Der humane IgG2-anti-RANKL-Antikörper Denosumab ist zwar ein sehr wirksames Medikament, nach dem Absetzen kann es aber zu einem ausgeprägten Rebound-Effekt kommen. Da auch andere Therapieoptionen langfristig ihre Limitationen haben, ist die wichtigste Botschaft für die Behandlung junger Menschen mit einer Osteoporose: gründlich nach allen möglichen sekundären Formen fahnden. Das Entscheidende ist die Behandlung der Grundkrankheit!

Ihre Arbeitsgruppe hat auch eine Reihe von Publikationen zum Thema Polyzystisches Ovarialsyndrom PCOS veröffentlicht, einer Krankheit, die mit zahlreichen hormonellen und metabolischen Veränderungen assoziiert ist. Offensichtlich haben auch Kalzium und Vitamin D einen Einfluss auf den Verlauf?

Aus meiner Sicht ist das Polyzystische Ovarialsyndrom, das „PCOS“, für uns ein Modell für viele zentrale Hormonund Stoffwechselregulationen. Ich sehe es aber weniger als Erkrankung, sondern als eine Art „Naturvariante“. Dafür spricht, dass nicht nur in fast allen Ethnien weltweit etwa zehn bis 20 Prozent der Frauen die Diagnosekriterien eines PCOS erfüllen, sondern ein ähnlicher Prozentsatz von „PCOS-Weibchen“ auch bei wild lebenden Primaten gefunden werden kann. Außerdem haben männliche Verwandte ersten Grades häufig ebenfalls einen ähnlichen Phänotyp mit metabolischem Syndrom, schütterem Haar und verstärkter Körperbehaarung. Ein Phänotyp, der so häufig ist, kann sich aber nur entwickelt haben, wenn er auch einen evolutionären Vorteil hatte.

In Zeiten, da sich bei Frauen noch eine Schwangerschaft an die andere reihte, hatten Kinder, deren Mütter weniger Eisprünge und Schwangerschaften hatten, vielleicht eine bessere Überlebenschance. PCOS-Mütter hatten durch ihre Neigung zu Adipositas in Zeiten knapper Nahrung nicht nur selbst einen Überlebensvorteil, sondern waren durch ihre Physis und Psyche möglicherweise auch besser in der Lage, ihre Kinder vor Gefahren zu schützen. Wir konnten schon vor ein paar Jahren zeigen, dass Insulinresistenz und Insulinausschüttung auch davon abhängen, ob die betreffende Person ein hohes oder niedriges Serumkalzium hat. PCOS-Frauen mit Vitamin-D-Mangel und Laktoseintoleranz haben im Schnitt besonders schlechte metabolische Karten. Sie sind z.B. adipöser und haben eine höhergradige Insulinresistenz.

Wir erforschen aktuell Zusammenhänge zwischen Kalzium und Darmepithel in einer sogenannten „Ussing-Kammer“, die der Messung der Durchlässigkeit von Darmepithel-Geweben dient. Je höher das Kalzium, desto geringer ist die Darm-Permeabilität. Besonders ungünstig auf die Permeabilität wirkt sich übrigens eine Hyperglykämie aus. Ein für die Betreuung der Patientinnen ganz wichtiger Aspekt ist, dass zu den Merkmalen des PCOS neben Hormonveränderungen auch Veränderungen der Immunologie gehören. PCOS-Frauen haben viel häufiger eine Hashimoto-Thyreoiditis, eine glutensensitive Enteropathie oder eine Allergie. Wenn man Frauen gezielt danach fragt, findet man gar nicht so selten eine bisher noch unerkannte Autoimmunerkrankung.

Nach unseren neuesten Erkenntnissen beruht das darauf, dass die betroffenen Frauen eine veränderte B-Zell-Population haben. Vor zwei Jahren wurde nachgewiesen, dass eine sehr kohlenhydratreiche Ernährung die angeborene Immunität reprogrammieren und die Körperabwehr langfristig aggressiver machen kann. Wenn man sich dann wieder gesund ernährt, geht zwar die systemische Entzündung zurück, die Autoimmunität bleibt aber bestehen, was wir bei Antikörper-Screenings und FACS-Analysen auch bei PCOS-Frauen finden.

Teamgeist in Labor und Arbeitsgruppe Obermayer-Pietsch

Sie haben gezeigt, dass die Symptome und Hormonveränderungen beim PCOS auch mit der Zusammensetzung des Darmmikrobioms korrelieren. Die Wirksamkeit von Phytoöstrogenen scheint ebenfalls davon abzuhängen, welche Mikroorganismen in unserem Verdauungstrakt aktiv sind …

Pflanzliche Östrogene sind ein bekannt milliardenschwerer Markt. Wichtig zu wissen ist aber, dass nach der „Equol-Hypothese“ nur etwa 20 bis 30 Prozent der europäischen Bevölkerung mit der Nahrung zugeführte Phytoöstrogene so verstoffwechseln können, dass daraus aktive Metaboliten entstehen. Ob die in Soja enthaltenen Isoflavone Daidzein und Genistein in Equol umgewandelt werden, das antiandrogen, antikarzinogen und antiinflammatorisch wirken kann, hängt nicht vom körpereigenen Stoffwechsel ab, sondern von unseren Darmbakterien. Während in Asien die große Mehrzahl der Menschen in ihrem Mikrobiom entsprechende Anaerobier aufweisen, kommt es bei der Mehrzahl der Europäerinnen und Europäer nach Sojakonsum nur zu einem geringen Anstieg der Isoflavonplasmakonzentration.

Die unterschiedliche Zusammensetzung der Darmflora ist wahrscheinlich ein Resultat der unterschiedlichen Ernährung. Ob eine Person von Phytoöstrogenen profitiert und Equol produziert oder nicht, können wir mit massenspektrometrischen Methoden nachweisen. Dabei weisen Equol-Producer bei einem Kurztest nach forcierter Zufuhr im Harn einen höheren Konzentrationsquotienten aus Metabolit und Ausgangshormon auf. Wir arbeiten aber auch an Schnelltests zur Diagnostik der verantwortlichen Bakterien in einer Stuhlprobe. Ob wir das Mikrobiom auch über längere Zeit positiv verändern können, wird aktuell in klinischen Studien erarbeitet – das ist auch Teil unserer Forschung zur personalisierten Medizin.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum innere