8. Juni 2020Achtung, äußerst giftig!

Vergessene Krankheiten durch Toxinbildner erkennen

Was haben Botulismus, Tetanus und Diphtherie gemeinsam? Sie werden durch toxinbildende Bakterien ausgelöst, hinterlassen keine Immunität und sind selten. Zeit, sie mal wieder ins Gedächtnis zu rufen.

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Mit Botulinumtoxin verbindet man praktisch nur noch die therapeutische Anwendung. Doch das hochpotente Gift kann eben auch richtig giftig sein, erinnerte Professor Dr. Matthias Klein von der Neurologischen Klinik am Klinikum Grosshadern in München. Mindestens sieben immunologisch verschiedene Toxintypen sind bekannt (Serotypen A–G), wobei Typ A für die meisten Botulismusfälle verantwortlich zeichnet. Gebildet wird es vom grampositiven obligat anaeroben sporenbildenden Stäbchenbakterium der Gattung Clostridium, am häufigsten von C. botulinum.

Wenn es zum Botulismus kommt, dann meist zum Nahrungsmittelbotulismus. Wund-, Inhalations-, Säuglings- und iatrogener Botulismus sowie die chronische, viszerale Form, die vor allem Landwirte trifft, spielen eine untergeordnete Rolle.

Lebensmittel­botulismus

Beim Botulismus durch Nahrungsmittel handelt es nicht nicht um eine Infektionskrankheit, sondern um eine Vergiftung. Potenzielle Toxinquelle sind selbst eingekochte Lebensmittel mit niedrigem Säuregehalt (z.B. Spargel, Bohnen, Kartoffeln, Rote Bete), die vor dem Verzehr nicht mindestens 10 Minuten durchgekocht wurden, Wurst- und Gemüsekonserven sowie Fischprodukte.

Die Phase zwischen Ingestion des Toxins und dem Beginn der Symptome (Latenzzeit) beträgt in der Regel weniger als 48 Stunden. Los geht es zumeist mit gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen. Rasch gesellt sich dann eine Reihe neurologischer Symptome hinzu, z.B.:

  • Dysphagie
  • Xerostomie
  • Diplopie
  • Dysarthrie
  • deszendierende Arm und Beinparesen
  • Akkomodationsstörungen

Als Differenzialdiagnosen kommen die Myasthenie, das Miller-Fischer-, Guillain-Barré- oder das Lambert-Eaton-Syndrom sowie Elektrolytstörungen infrage.

Ein Lebensmittelbotulismus lässt sich über den Toxinachweis in Erbrochenem und Stuhl oder den Resten befallener Lebensmittel sichern. Im Serum findet sich das Gift nur für 24–48 Stunden.

Unbehandelt liegt die Letalität des Nahrungsmittelbotulismus hoch, doch mit dem heptavalenten Antitoxin gegen die Typen A–G steht eine effektive Therapie zur Verfügung. Allerdings muss sie rechtzeitig einsetzen, das heißt innerhalb von 48 Stunden. Danach lässt sich das Gift nicht mehr neutralisieren, sodass dann nur die symptomatische Therapie bleibt. Bei kurzer Inkubationszeit (wenige Stunden) kann auch eine endoskopisch gestützte Magenspülung helfen. Alle betroffenen Patienten sollten auf einer Intensivstation versorgt und überwacht werden, betonte Prof. Klein.

Wundbotulismus

Im anaeroben Wundbereich keimen die Clostridiensporen aus und produzieren anschliessend Botulinumtoxin. Therapeutisch ist ein gründliches Débridement und die Gabe von Penicillin G erforderlich. Die Krankheit hinterlässt keine bleibenden Schäden – aber auch keine Immunität.

Tetanus

Eine Krankheit, die hierzulande kaum noch gesehen wird, ist der Tetanus. Eigentlich eine gute Nachricht, da sie für eine hohe Durchimpfungsrate spricht, sagte PD Dr. Bettina Pfausler von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck. Tatsächlich liegt die Impfquote hierzulande bei 95 %. Leider gerät die Wiederauffrischung aber mit den Jahren immer mehr in Vergessenheit und so droht die Infektion vor allem älteren Menschen. Eine Meldepflicht gibt es nicht, sodass keine exakten epidemiologischen Daten vorliegen.

Die Sporen des grampositiven, anaeroben Clostridium tetani überleben in Erde und Staub jahrelang, Hitze und Antiseptika können ihnen nichts anhaben. Nach Kontamination einer Verletzung wandert das Tetanustoxin entlang der peripheren Nerven ins Rückenmark und blockiert dort die Freisetzung von GABA und Glycin in den synaptischen Spalt. Die Folge: eine Daueraktivität des alpha-Motoneurons mit ungebremsten Muskelkontraktionen sowie die Enthemmung des autonomen Nervensystems.
Man unterscheidet vier Manifestationsformen des Tetanus:

  • generalisiert (mit 80 % am häufigsten)
  • neonatal
  • lokalisiert
  • zephal

Nach einer Latenz von wenigen Tagen bis drei Wochen treten erste Anzeichen auf. Je kürzer diese Zeitspanne, umso schwerer der Krankheitsverlauf, was mit der gebildeten Toxinmenge zu tun haben könnte. Als charakteristischstes Zeichen nannte Dr. Pfausler die Kiefersperre (Trismus). «Viele kommen deshalb zuerst in die Kieferchirurgie».

Dysphagie und Muskelspasmen gelten als weitere typische Merkmale. Viele Patienten haben einen Gesichtsausdruck, der einem festgefrorenen Lächeln ähnelt und als Risus sardonicus oder salopp «Teufelsgrinsen» bekannt wurde. Autonome Symptome (Schwitzen, Hyperthermie, myokardiale Funktionsstörung, Arrhythmie, Blutdruckentgleisungen) entwickeln sich ab der zweiten Woche, dann erreicht die Infektion auch ihren Höhepunkt.

Die Diagnose wird klinisch-anamnestisch (Verletzung, Impfung?)gestellt. Unterstützend kann man den Spateltest (Kranke würgen nicht bei einem Spatel im Hals, sondern beissen zu) und das EMG (Daueraktivierung) hinzuziehen. Die Therapie ruht auf fünf Säulen:

  • Giftproduktion unterbrechen: Débridement, Metronidazolgabe (alternativ Clindamyin, Tetracyclin, Vancomycin)
  • zirkulierendes Toxin binden: Gabe von humanem Tetanus-Immunglobulin (hTIG, 500–3000 IE i.m. oder intrathekal)
  • Muskelspasmen kontrollieren (Benzodiazepine, Stimuli, Muskelrelaxanzien, Magnesiumsulfat, Baclofen, Botulinumtoxin)
  • vegetative Symptome beherrschen (Alpha- und Betablocker, Betablocker alleine erhöhen die Mortalität)
  • allgemeine intensivmedizinische Massnahmen anwenden

Die Bindung des Toxins muss so schnell wie möglich geschehen, ist es erst im ZNS angekommen, hat man keinen Zugriff mehr. Werden Patienten nach einer längeren Beatmungspflicht entwöhnt, sollte man das Stoma nicht zu früh entfernen, warnte Dr. Pfausler. Denn «die Krämpfe der Atemmuskulatur können noch über Wochen rezidivieren.» Wie beim Botulismus haben die Patienten nach überstandener Krankheit keine Immunität, sollten sich also impfen lassen.

Diphtherie

Den ersten Diphtherie-Ausbruch in Deutschland nach 40 Jahren beschrieben Kollegen im Mai 2019. Nach einem Aufenthalt in Somalia heilte bei einem Kind eine Brandwunde nicht. Schliesslich konnte man darin neben Streptococcus pyogenes toxigenes Corynebacterium-diphtheriae-biovar-mitis nachweisen, das sich gegenüber Penicillin G und Erythromycin als resistent erwies. Bei einem weiteren Kind der Familie entpuppten sich mehrere «Insektenstiche» ebenfalls als Hautdiphtherie. Beide Kinder waren nicht geimpft, was umgehend nachgeholt wurde. Die Infektion heilte unter der Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure sowie einem Wunddébridement ab.

Der Mensch dient dem fakultativ anaeroben, grampositiven C. diphtheriae als einziges Reservoir, die Übertragung erfolgt über Tröpfchen oder direkten Kontakt mit Läsionen, berichtete Professor Dr. Uta Meyding-Lamadé, Klinik für Neurologie, Krankenhaus Nordwest, Frankfurt am Main. Nach 2–5 Tagen Inkubationszeit kommt es zu ersten Symptomen. An der Haut zeigen sich schmierig-belegte Ulzerationen, es liegen oft Mischinfektionen vor.

Patienten mit respiratorischer Diphtherie klagen über Halsschmerzen, Schluckbeschwerden und Fieber. Nach kurzer Zeit bilden sich im Rachen die typischen grau-weissen oder bräunlichen Pseudomembranen, die beim Ablösen bluten. Kindern drohen durch Befall des Kehlkopfes Krupp-Anfälle. Jeder fünfte Patient weist im Verlauf eine Nervenbeteiligung auf, sie äussert sich u.a. durch Gaumensegelparesen, Akkomodationsstörungen oder das Sehen von Doppelbildern. Wiederum 20 % davon entwickeln eine demyelinisierende sensomotorische Polyneuropathie ähnlich einem Guillain-Barré-Syndrom.

Im schlimmsten Fall kommt es zur toxischen Diphtherie mit Nierenversagen, Myokarditits und zervikaler Schwellung. Die Letalität der Krankheit allgemein beträgt 5–10 %, die der toxischen Form liegt deutlich höher. Die schnelle Therapie kann die Wahrscheinlichkeit für eine Neuropathie um 50 % reduzieren, «time is nerve», sagte Prof. Meyding-Lamadé. Innerhalb von 48 Stunden sollte man das Diphtherie-Antitoxin verabreichen, danach ist das Gift in der Zelle und damit unerreichbar. Antibiotisch setzt man Erythromycin und Rifampicin (über sieben Tage) ein. Komplikationen werden entsprechend ergänzend behandelt.

Achtung: Enge Kontaktpersonen brauchen unabhängig von ihrem Impfstatus eine Chemoprophylaxe, z.B. mit einer einmaligen Dosis Benzyl-Penicillin i.m. Damit soll der Erreger ausgemerzt und eine Infektionskette verhindert werden. Und wie bei den anderen toxinbedingten Krankheiten gilt: Da die Diphtherie keine Immunität hinterlässt, schützt nur die Impfung vor dem Rezidiv.

Differenzialdiagnosen bei Tetanus

  • parapharyngeale/peritonsilläre ­Abszesse
  • fokale Dystonien+
  • Strychnin-Intoxikation
  • Enzephalitis
  • malignes Neuroleptika-Syndrom
  • Fazialisparese

Botulinumtoxin als Biowaffe

Botulinunmtoxin eignet sich zum Missbrauch im Bioterrorismus und unterliegt dem Kriegswaffenkontrollgesetz. 1 g des Giftes könnte 1,5 Millionen Menschenleben auslöschen. Verbreiten liesse es es sich theoretisch über Getränke oder Inhalation. Prof. Klein warnte zudem vor verunreinigten Medikamenten und davor, Produkte zur therapeutischen Nutzung im Internet zu kaufen.

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