6. Mai 2020Covid-19

„Nach der virologischen droht eine psychische Pandemie“

Traurige junge Frau, die am Fenster sitzt
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Viele psychische und soziale Folgen der Corona-Pandemie werden erst verzögert auftreten und könnten sogar Jahre andauern, warnt der Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD-Wien) sowie Leiter des Psychosozialen Krisenstabes in Wien, Dr. Georg Psota. Auch Mitarbeiter im Gesundheitswesen sollten nicht zögern, psychosoziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

CliniCum neuropsy: Die aktuelle Situation bereitet vielen Menschen seelische Probleme. Wie geht es nach Ihren Erfahrungen Menschen mit psychischen Erkrankungen damit?
Georg Psota: Die bisherigen Erfahrungen im PSD sind ganz unterschiedlich: Einerseits kommen Menschen, die durch ihre Erkrankung wie eine chronische schizophrene Störung schon bisher wenig Sozialkontakte hatten, erstaunlich gut mit der Situation zurecht – unter der Voraussetzung, dass die therapeutische Beziehungen aufrechterhalten und die medikamentöse Behandlung fortgeführt werden. Die Betreuung erfolgt meist telefonisch bzw. in Einzelfällen und unter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen auch persönlich. Eine andere Gruppe – und dies betrifft vor allem Menschen mit zunehmenden existenziellen Problemen oder Menschen mit Angsterkrankungen – gerät dagegen zusehends unter Druck

. Auch bei Suchterkrankungen sind eine Verschlimmerung mit vermehrten stationären Behandlungen sowie eine Zunahme der Diagnosen insgesamt zu befürchten.

In Anbetracht der Problematik hat die Stadt Wien unter Ihrer Leitung einen psychosozialen Krisenstab eingerichtet. Welche Ziele verfolgt dieser?

Wir gehen davon aus, dass uns als Folge der virologischen Pandemie auch eine psychische Pandemie droht. Diese Ausnahmesituation, die wir nun seit rund fünf Wochen erleben, wird psychosoziale Folgen für breite Bevölkerungskreise haben. Im ersten Schritt geht es nun darum, psychosoziale Problemfelder zu analysieren und entsprechende Lösungen vorzuschlagen – und dies vor dem Hintergrund einer ungemein dynamischen Entwicklung. Mit den von uns definierten zehn Problemfeldern werden unter anderem Risikopopulationen besonders angesprochen, ältere Menschen, Kinder und Jugendliche sowie Menschen in Betreuungseinrichtungen. Die Erfahrungen sowie erste Umfragen zeigen, dass die Situation bei sehr vielen Menschen enorme Ängste auslöst und auch Verunsicherung im Hinblick auf die ­Sicherstellung der Versorgungsqualität herrscht. Hinzu kommen räumliche Beschränkungen und eine fehlende Tagesstruktur als zusätzliche Risikofaktoren. Eine Forderung des Krisenstabes war daher die Einrichtung einer zentralen psychosozialen Telefon-Hotline, die neben einem anonymen Beratungsangebot auch an weiterversorgende Einrichtungen vermitteln kann (siehe auch Kasten, Anm.).

Eine jüngst publizierte Review-Arbeit (Brooks et al., Lancet 2020) hat die psychischen Auswirkungen von Quarantäne-Situationen untersucht: Demnach ist vor allem das Gesundheitspersonal besonders hohen psychischen Belastungen ausgesetzt.

Dieses Ergebnis deckt sich mit unseren Erfahrungen im Krisenstab, wo wir auch die Gruppe der Gesundheitsberufe genauso wie etwa Personal in sozialpädagogischen Einrichtungen in den Problemfeldern adressieren. Belastungen ergeben sich durch die erhöhte Infektionsgefahr oder Sorgen um eine mögliche Ansteckung von Angehören ebenso wie durch mitunter schwierigen Entscheidungssituationen. Die Erfahrungen aus Italien warnen uns davor, dass gerade das Personal an Akutabteilungen oder Intensivstationen massiven Traumatisierungen ausgesetzt sein kann.
Es braucht also gerade für das Gesundheitspersonal ein spezifisches Angebot zur Entlastung. Der Wiener Krankenanstaltenverbund oder das AKH zum Beispiel bieten ihren Mitarbeitern bereits eigene Telefonberatungen an. Allerdings zeigt die bisherige Erfahrung, dass eine solche Telefonberatung nur zögerlich in Anspruch genommen wird. Eher tauscht man sich da noch mit KollegInnen aus „Psy-Berufen“ aus, die bereits an der Station arbeiten. Es spielt die persönliche Beziehung auch hier eine wichtige Rolle für die Inanspruchnahme von Beratungsangeboten. Wir arbeiten daher daran, Menschen in Gesundheitsberufen noch besser zu erreichen. Innerhalb des PSD bieten wir unseren Mitarbeiterinnen beispielsweise vermehrt Einzelsupervisionen an, die gut angenommen werden.

Welche Herausforderungen orten Sie im Bereich Suizidprävention im Zusammenhang mit den noch nicht abzuschätzenden sozioökonomischen Folgen der Krise?

Mit der Wirtschaftskrise 2009 gab es im selben Jahr sowie in den folgenden Jahren danach allen europäischen Ländern eine signifikante Zunahme der Suizide, jedoch nicht in Österreich. Der Grund dafür lag darin, dass in Österreich – anders als etwa im Vereinigten Königreich – die psychosoziale Versorgung nicht reduziert wurde. Wenn ich nun davon ausgehe, dass die bestehende Versorgung in Österreich erhalten bleibt, dann habe ich die Hoffnung, dass wir keinen Anstieg der Suizide erleben werden. Das wird aber davon abhängen, ob es gelingt, Beratungsangebote nicht nur weiter anzubieten, sondern sie auch genügend bekannt zu machen. Ein zeitnahes Monitoring ist jedenfalls nötig, um sofort reagieren zu können, falls Suizide in einzelnen Risikogruppen zunehmen sollten. Ein besonderer Fokus sollte dabei auf ältere Menschen gelegt werden, deren ohnehin erhöhtes Suizidrisiko im Verlauf der Covid-19-Pandemie deutlich ansteigen kann.

Einigen Kommentatoren zufolge, werden die sozialen Medien mit der Krise tatsächlich sozial. Nach vielen Witzen zu Anfang der Krise finden sich jetzt dort immer mehr Angebote an sozialer Unter­stützung.
Es scheint so, als ob die Kommunikation in den sozialen Medien dem regelhaften Verlauf von Krisen folgt: Nach der humorvollen Anfangsreaktion mit vielen Witzen als eine Form der verleugnenden Abwehr folgt eine Schockphase und darauf oft aggressive Abwehr. Aktuell befinden wir uns in der Phase der depressiven Abwehr, die üblicherweise in die Akzeptanz mündet, bevor die Krise mit großer Freude überwunden ist. Gerade jetzt, wo viele Menschen sich in dieser Phase der depressiven Abwehr befinden, ist es erfreulich, wenn auch über die sozialen Medien Unterstützungsangebote gemacht werden!

Vielen Dank für das Gespräch!

Psychosozialer Krisenstab der Stadt Wien

Anfang April 2020 wurde unter der Leitung von Chefarzt Dr. Georg Psota von der Stadt Wien ein psychosozialer Krisenstab eingerichtet. Darin berät ein interdisziplinär zusammengesetztes Team aus Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie über die Möglichkeiten der psychosozialen Unterstützung in der aktuellen Ausnahmesituation. Der Krisenstab soll sicherstellen, dass spezifische Angebote zur Förderung der psychischen Gesundheit gemacht werden. In einer ersten Analyse wurden vom Krisenstab zehn psychosoziale Problemfelder benannt: Neben der Zunahme psychischer Belastungen in der Gesamtbevölkerung wird dabei unter anderem die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ebenso priorisiert wie die notwendige psychosoziale Betreuung von Kindern und Jugendlichen bzw. Familien, älteren Menschen, Menschen in Betreuungseinrichtungen oder von professionellen HelferInnen. Eine erste Forderung des Krisenstabes war die Einrichtung der zentralen psychosozialen „Corona Sorgen Hotline Wien“, die in Wien unter 01/4000-53000 bereits angeboten wird. Empfehlungen gib es seitens des Krisenstabes auch für die Kommunikation zur besseren Nutzung von Beratungshotlines (v.a. auf Initiative von Univ.-Prof. Dr. Karl Dantendorfer). Darin wird unter anderem betont, dass es „ganz normal“ sei, wenn Menschen derzeit ungewöhnlichem Stress ausgesetzt sind und dass es ebenso „normal“ sei zur Bewältigung der besonderen Stresssituation Hilfe in Anspruch zu nehmen.
www.psd-wien.at/corona-sorgenhotline-wien.html

Das Gespräch führte Mag. Christina Lechner vier Wochen nach Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy